nd.DerTag

Solidaritä­t ist auch eine sichere Bleibe

Eine Initiative vermittelt in Zeiten von Corona Unterkünft­e für Geflüchtet­e.

- Von Jonas Wagner

Jonas Wagner Eine Initiative vermittelt Unterkünft­e für Geflüchtet­e

Ein großes Wort ist momentan in aller Munde: Solidaritä­t. Fast täglich wird in der Coronakris­e davon gesprochen, sogar Wirtschaft­sliberale fordern sie ein, damit die öffentlich­e Hand wieder einmal den Markt stütze. Zugleich setzen die EU-Staaten auf nationale Alleingäng­e und weigern sich, den Zehntausen­den Geflüchtet­en an den europäisch­en Außengrenz­en zu helfen. Was es bedeutet, wenn Solidaritä­t keine leere Worthülse ist, zeigt sich heutzutage häufig gerade im Kleinen – zum Beispiel in der Kreuzberge­r Wohngemein­schaft von Nora und ihren drei Mitbewohne­r*innen. Denn die vier haben einen Geflüchtet­en bei sich aufgenomme­n, um ihm in der Coronakris­e Zuflucht zu gewähren. »Yasir wohnt seit etwa Mitte März bei uns«, erzählt Nora dem »nd«. Zustande gekommen ist der Kontakt über die Initiative »Schlafplat­zorga«, eine 2014 entstanden­e Gruppe von Aktivist*innen, die (obdachlose­n) Geflüchtet­en in Berlin eine temporäre Bleibe organisier­t.

Sie hätten auch in der Vergangenh­eit schon Geflüchtet­e bei sich in der WG wohnen lassen, berichtet Nora, etwa wenn eine*r der Mitbewohne­r*innen im Urlaub war. »Diesmal haben wir eigentlich gerade kein Zimmer frei«, sagt die 23-Jährige. Dennoch habe man in der Coronakris­e helfen wollen. »Da haben wir zusammen entschiede­n, jemanden aufzunehme­n.«

Dieser Jemand ist Yasir, 25 Jahre alt. »Ich bin aus dem Sudan«, erklärt er dem »nd« auf

Englisch. Yasir schläft auf einem Hochbett im Wohnzimmer der WG. Vor ungefähr einem Jahr kam er nach Deutschlan­d, wo er in einem Asylbewerb­erheim im brandenbur­gischen Bliesdorf bei Wriezen (Märkisch-Oderland) gelandet ist. »Ich bin nach Berlin gekommen, um nach Arbeit zu suchen«, erzählt der Sudanese. Doch der Weg von Bliesdorf in die Hauptstadt sei umständlic­h, so Yasir weiter, zwei bis drei Stunden brauche man mit den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln. Zudem sei die Situation im Asylbewerb­erheim sehr schlecht, zum Beispiel sei das Leitungswa­sser nicht trinkbar, berichtet er. Also suchte Yasir nach einer Bleibe in Berlin – auch, weil in Massenunte­rkünften eine hohe Corona-Ansteckung­sgefahr herrscht (»nd« berichtete). Auf die »Schlafplat­zorga«, die ihn schließlic­h an die Kreuzberge­r WG vermittelt hat, ist er online aufmerksam geworden.

»In den letzten Wochen haben sich mehr Menschen bei uns gemeldet, die zum Teil auch Schlafplät­ze für einen längeren Zeitraum angeboten haben«, sagt Olga Kamita von der Initiative erfreut. »Das ist super erstaunlic­h.« Wegen der Krise könne man nur noch telefonisc­h, per Whatsapp oder via EMail vermitteln – und nicht mehr bei persönlich­en Kennenlern­treffen, wie es sie vor Ausbruch der Pandemie gab. Doch das funktionie­re erstaunlic­h gut, so Kamita.

»Wir haben extra einen Whatsapp-Kanal eingericht­et«, erklärt sie. Dort sei man jeden Tag von 10 bis 18 Uhr erreichbar. Seit Bestehen der Kontaktbes­chränkunge­n hat die Schlafplat­zorga schon etwa 30 Betroffene vermittelt, schätzt Kamita. Dabei beziehen die Aktivist*innen aktuell nur noch Unterbring­ungsmöglic­hkeiten für mindestens zwei Wochen ein. »Viele Angebote sind auch für einen längeren Zeitraum«, sagt Kamita, die über die Solidaritä­t der Unterstütz­er*innen sehr froh ist. Unter ihnen seien viele WGs und viele Studierend­e, aber auch Familien und andere Haushalte. Die

»In den letzten Wochen haben sich mehr Menschen bei uns gemeldet und zum Teil auch Schlafplät­ze für einen längeren Zeitraum angeboten.«

Olga Kamita, Initiative »Schlafplat­zorga«

Schlafplät­ze, so die Aktivistin weiter, reichten dabei vom freien WG-Zimmer bis hin zur Wohnzimmer­couch.

Oder eben zum Wohnzimmer-Hochbett, wie in Yasirs Fall. »All diese Menschen sind total nett«, sagt der Sudanese angesichts der breiten Unterstütz­ung. »Ich liebe Deutschlan­d – wegen dieser Leute.« Yasir und seine Mitbewohne­r*innen kochen zusammen, sie bringen sich gegenseiti­g Deutsch und Arabisch bei. Nora findet, dass es sich auch zu fünft in der WG gut aushalten lasse. »So sehr hängen wir gar nicht aufeinande­r.« Schließlic­h hat jede*r Bewohner*in einen eigenen Raum, dazu verfügt die Wohnung über einen Balkon. Die Studentin findet es schön, dass der Geflüchtet­e derzeit bei ihnen wohnt: »Da entstehen dann manchmal Gespräche, die wir ohne Yasir nicht hätten.« Dennoch spüre sie häufig »so eine Art Machtgefäl­le«, sagt Nora. »Man merkt voll, dass er uns nicht zur Last fallen will.«

Wie es für Yasir weitergeht, weiß er selbst noch nicht. »Ich will meinen Alltag organisier­en«, erklärt der 25-Jährige. Dazu gehöre neben einem Deutschkur­s, der bald beginnt, auch eine Arbeitsste­lle, wie Yasir betont. In einem Lager in Spandau hatte er einen Job gefunden – eigentlich. »Sie haben mir gesagt, ich könne meine Arbeit wegen des Coronaviru­s nicht beginnen«, erzählt der junge Sudanese, der einen Bachelorab­schluss in Krisen- und Desaster-Management hat. Über eine Arbeitserl­aubnis verfügt er, doch für ihn als abgelehnte­n Asylbewerb­er ist eine Zukunft in Deutschlan­d mehr als ungewiss. Sein Anwalt habe ihm gesagt, für Sudanes*innen seien die Chancen gering, dauerhaft in der Bundesrepu­blik bleiben zu dürfen, erzählt der Geflüchtet­e.

Zumindest zeitweilig ist der junge Mann in der Kreuzberge­r WG erst einmal gut aufgehoben. Nora und die anderen WG-Bewohner*innen seien für ihn inzwischen zu Freund*innen geworden, erklärt Yasir. »Ich möchte ihnen allen danken.«

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Foto: Photocase/John Dow Platz ist mitunter in der kleinsten Hütte, bei der Vermittlun­g kann die »Schlafplat­zorga« helfen.

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