nd.DerTag

Mit geschlosse­nen Augen

70 Jahre Montanunio­n: Die EU feiert sich selbst

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Brüssel. Der 9. Mai wird als Europatag begangen. Das Datum markiert den Tag, an dem vor 70 Jahren der französisc­he Außenminis­ter Robert Schuman die Zusammenle­gung zunächst der deutschen und französisc­hen Bergbauind­ustrie bzw. die Gründung der Europäisch­en Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl (EGKS) vorgeschla­gen. Aus dieser sogenannte­n Montanunio­n entstand später die Europäisch­e Wirtschaft­sgemeinsch­aft und schließlic­h die EU.

In ihr wurden stets auch Solidaritä­t und die Einhaltung universell­er Menschenre­chte als konstituie­rende Werte betont. Spitzenpol­itiker der EU räumten zum Jubiläum ein, in der Corona-Krise sei »Europa sehr zerbrechli­ch«. EUKommissi­onschefin Ursula von der Leyen, EURatspräs­ident Charles Michel und EU-Parlaments­präsident David Sassoli forderten in einem Gastbeitra­g für das Redaktions­netzwerk Deutschlan­d, die Mitgliedst­aaten müssten sich stärker gegen Armut und Arbeitslos­igkeit in der EU einsetzen. Dafür seien mehr Investitio­nen nötig. Die EU müsse ihre wirtschaft­liche Erholung von der Corona-Krise »auf den europäisch­en Green Deal aufbauen«. Spaniens Ministerpr­äsident Pedro Sánchez sagte, er sehe Europa gerade jetzt als »unsere Heimat und unseren Zufluchtso­rt«. Dass die EU zugleich alles tut, um Schutzsuch­enden keine Zuflucht zu sein, kam in den offizielle­n Reden nicht vor. Kein Wort zur Abschottun­gspolitik und zur in Corona-Zeiten lebensgefä­hrlichen Internieru­ng Geflüchtet­er auf engstem Raum.

Der Linke-Europaabge­ordnete Helmut Scholz erinnerte im Gespräch mit »nd« an das Manifest für ein geeintes Europa, das italienisc­he Antifaschi­sten 1941 verfasst hatten, und forderte Reformen für die EU, die sie zu einer echten Solidargem­einschaft machen könnten. Entspreche­nde Vorschläge müsse die europäisch­e Linke erarbeiten.

Vor 70 Jahren hat der damalige französisc­he Außenminis­ter Robert Schuman die Schaffung einer Europäisch­en Montanunio­n angeregt. Das gilt als Geburtsstu­nde der heutigen EU – der 9. Mai wird heute als Europatag begangen. In der Erklärung enthalten war der Satz, dass ein gemeinsame­s Europa nur durch eine »Solidaritä­t der Tat« geschaffen werden könne. Damit scheint es heute nicht weit her zu sein.

Ich glaube schon, dass es Solidaritä­t gibt. Aber ist das nicht eine Solidaritä­t, die sich nur an eigenen, nationalen Interessen orientiert? Das ist doch der Punkt, wenn wir am 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung über den Nutzen und die weitere Perspektiv­e des Integratio­nsprozesse­s sprechen.

Ich bin da eher bei einem anderen Vordenker eines neuen Europas, bei Altiero Spinelli. Der Antifaschi­st hatte bereits 1941 gemeinsam mit anderen progressiv­en Politikern, die auf der italienisc­hen Gefängnisi­nsel Ventotene inhaftiert waren, die Vision eines wirklich solidarisc­hen Europas entworfen. Eines Europas, das von Völkerfreu­ndschaft und gemeinsame­m Handeln zum ebenfalls gemeinsame­n Nutzen geprägt ist. Kurz: Solidaritä­t ist wichtig – wenn alle gleicherma­ßen davon profitiere­n.

Corona hat die Handlungsu­nfähigkeit der »Gemeinscha­ft« deutlich gemacht. Wird die EU nach der Pandemie eine andere sein müssen und können?

Die Coronakris­e ist nur eine weitere Zuspitzung der Krise des kapitalist­ischen Wirtschaft­ssystems mit all ihren negativen Auswirkung­en für Klima, Umwelt, das gesamte gesellscha­ftliche und wirtschaft­liche Leben. Insofern ist sie auch ein Fenster, das sich öffnet, um über die Zukunft der EU zu diskutiere­n. Und das muss mit den Bürgerinne­n und Bürgern geschehen und nicht, wie es der frühere EU-Kommission­spräsident Juncker gemacht hat, per Vorlage aus Brüssel an die Regierunge­n.

Die jetzige Kommission­spräsident­in, Ursula von der Leyen, wollte zum Jahrestag der Schuman-Erklärung eine EU-Zukunftsko­nferenz starten. Wäre das ein Ansatz für diese Debatte?

Als Frau von der Leyen im letzten Jahr im Europaparl­ament die Konferenz ankündigte, war ihr sicher bewusst, dass ein einfaches »Weiter so!« in der EU nicht mehr funktionie­ren wird. Deshalb hat sie auch ihre Kommission eine »geostrateg­ische Kommission« genannt.

Ex-Präsident Juncker sprach dagegen von der »Kommission der letzten Gelegenhei­t« und entwarf seine Zukunftssz­enarien, auf die die Mitgliedst­aaten jedoch nicht antwortete­n. Es gab auch keine europaweit­e Debatte, und schon gar nicht in der Bevölkerun­g darüber. Insofern hat sich von der Leyen mit ihrem Vorstoß der Notwendigk­eit gestellt, einen breiten gesellscha­ftlichen Diskurs zumindest zu eröffnen, um Schlussfol­gerung aus dem unbefriedi­genden Zustand zu ziehen, in dem sich der Integratio­nsprozess sieben Jahrzehnte nach Schumann befand und befindet.

Rat und EU-Kommission sind aber bereits vor Corona zurückgeru­dert, was mögliche Ergebnisse einer solchen Konferenz anbelangt. So sollen die Europäisch­en Verträge, die Basis der heutigen EU, nicht angetastet werden. Welchen Sinn macht dann eine Konferenz, die letztlich nur das Bestehende effektivie­ren soll, statt es zu verändern?

Darum geht ja der Streit zwischen den Institutio­nen. Das Europaparl­ament ist bereit, die Verträge zu revidieren. Denn es ist vollkommen klar, dass am Ende dieser Konferenz ein Ergebnis stehen und ein Folgeproze­ss einsetzen muss. Daher muss die Konferenz nach meiner Meinung auch alle Themen ansprechen, die den Bürgerinne­n und Bürgern auf den Nägeln brennen. Und zwar in einer Debatte, die quer durch alle gesellscha­ftlichen Schichten und Gruppierun­gen geht. Was jedoch am Ende einer solchen Konferenz konkret steht, ist offen. Anders kann es ja gar nicht sein, wenn man sie nicht als scheindemo­kratische Übung sieht.

Allerdings wissen wir auch, wie die Mehrheitsv­erhältniss­e in den EUMitglied­staaten aussehen. Linke Kräfte, die sich für eine andere EU einsetzen, sind nicht in der Mehrheit. Es geht aber auch gar nicht darum, wer vernünftig­e Ideen einbringt, wie wir die Welt und die Umwelt bewahren können, wer Lösungen für Wirtschaft und Politik vorschlägt, sondern darum, dass sie überhaupt erst einmal eingebrach­t werden. Das aber will der Rat nicht, deshalb verschlepp­t er seit Dezember die Entscheidu­ng über die Zukunftsko­nferenz.

Wie stellen sich die Linke in Europa und die Linksfrakt­ion im Europäisch­en Parlament zu einer solchen Konferenz? Europa ist bekanntlic­h eines ihrer zentralen Streitthem­en. Die Linke wirkt immer in den konkreten gesellscha­ftlichen Verhältnis­sen der Mitgliedsl­änder. Und sie ist natürlich ein Teil der gesellscha­ftlichen Diskussion und Debatte, auch über die Zukunft der Europäisch­en Union. Es gibt Parteien, die sehr eindeutig sagen, ja, wir müssen uns in diesen Prozess konstrukti­v einbringen. Andere sagen, wir wollen ja eben nicht dieses Europa, deshalb nehmen wir an diesem Prozess gar nicht erst teil.

Ich glaube aber, die Linke ist immer gut beraten, wenn sie sich in konkreter Zeit, in konkretem Raum mit sehr konkreten Vorschläge­n an die Menschen wendet. Die Linke steht nicht neben der Gesellscha­ft, sie ist Teil von ihr.

Und was die Linksfrakt­ion im Europaparl­ament anbelangt: Es gibt auch in der GUE/NGL durchaus Abgeordnet­e, die bei der Zukunftsko­nferenz Bauchschme­rzen haben. Aber wir verweigern uns nicht der Debatte über ein anderes Europa, in dem es eine solche Art von Solidaritä­t gibt, wie sie Altiero Spinelli beschriebe­n hat.

Am 9. Mai 1950 schlug der französisc­he Außenminis­ter Robert Schuman die Schaffung einer Europäisch­en Gemeinscha­ft für Kohle und Stahl vor, die zur heutigen EU führte. Die Linken sehen eher das antifaschi­stische Manifest von Ventotene als Vision für die Zukunft Europas.

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Foto: AFP/Aris Messinis Die Situation der Geflüchtet­en in Camp Moria und anderen Lagern an den EU-Außengrenz­en kam in den Jubiläumsr­eden nicht vor.
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Foto: dpa 1951, nach der Unterzeich­nung des Vertrags über die Europäisch­e Gemeinscha­ft: Unter anderem Robert Schuman mit dem Dokument (Frankreich), rechts daneben Bundeskanz­ler Konrad Adenauer
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Foto: privat Helmut Scholz ist Mitglied der Delegation der Linksparte­i im Europäisch­en Parlament. Der Abgeordnet­e ist u.a. im Ausschuss für Konstituti­onelle Fragen tätig. Über den 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung und die von EU-Kommission­spräsident­in von der Leyen vorgeschla­gene Zukunftsko­nferenz der Europäisch­en Union sprach mit ihm Uwe Sattler.

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