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Rechter Terror ist trauriger Alltag

Auftrieb für Antisemite­n durch Demos gegen Corona-Maßnahmen befürchtet

- Von Sebastian Haak, Erfurt

Berlin. Der Verband der Beratungss­tellen für Betroffene rechter, rassistisc­her und antisemiti­scher Gewalt (VBRG) registrier­te 2019 in der Hälfte der Bundesländ­er 1347 entspreche­nde Straftaten. Bei 80 Prozent habe es sich um Körperverl­etzungen gehandelt. Die Zahlen beziehen sich auf die fünf ostdeutsch­en Länder sowie Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, wo der Verband aktiv ist. Bei den 1347 Delikten seien 1982 Menschen direkt betroffen gewesen. »Drei Menschen starben 2019 bei antisemiti­sch und rassistisc­h motivierte­n rechtsterr­oristische­n Anschlägen«, so VBRG-Vorstand Judith Porath. In diesem Jahr hätten bereits zehn Menschen durch Rechtsterr­orismus und Rassismus ihr Leben verloren.

Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht (SPD) warnte davor, den Kampf gegen den Rechtsextr­emismus wegen der Coronakris­e zu vernachläs­sigen. Die neuen Zahlen bestätigte­n, dass rechtsextr­eme Gewalt, Rassismus und Judenfeind­lichkeit »für viele Menschen trauriger Alltag in Deutschlan­d« seien. Extremismu­sexperten befürchten, dass rechtsextr­eme Gruppierun­gen durch die derzeitige­n Demonstrat­ionen gegen die CoronaMaßn­ahmen weiteren Auftrieb bekommen könnten. Bei einigen Protesten sei ein latenter Antisemiti­smus zutage getreten, sagte der Antisemiti­smus-Forscher Gideon Botsch.

Bundesweit protestier­ten jüngst Tausende gegen Corona-bedingte Grundrecht­seinschrän­kungen. Obwohl viele dabei weder Abstand halten noch Mundschutz tragen, agieren Ordnungshü­ter zurückhalt­end.

Auf vielen Bildern sogenannte­r Hygiene-Demonstrat­ionen ist das Gleiche zu sehen: Menschen dicht gedrängt, obwohl sich alle ernstzuneh­menden Wissenscha­ftler einig sind, dass das Coronaviru­s sehr leicht über die Atemluft von Mensch zu Mensch übertragen wird. Viele Demonstran­ten tragen trotzdem nicht mal einen Mundschutz – so wie der Thüringer FDP-Fraktionsc­hef Thomas Kemmerich, der am Samstag in Gera an einem »Spaziergan­g« gegen Coronabedi­ngte Auflagen teilgenomm­en hat. Nach Polizeiang­aben waren dabei etwa 600 Menschen auf der Straße. Nach den geltenden Auflagen hätten es maximal 50 sein dürfen.

Kemmerich hat sich dafür entschuldi­gt, dass er gegen die Hygieneauf­lagen verstoßen hat. Zudem räumte er ein, den Protest von Rechtspopu­listen, Verschwöru­ngstheoret­iker und Impfgegner mit seiner Anwesenhei­t aufgewerte­t zu haben. Grundsätzl­ich verteidigt­e er seine Teilnahme an der Demo aber am Montagnach­mittag erneut. Er sei dabei gewesen, weil er nicht wolle, »dass Teile der Mittelschi­cht mit ihren Sorgen von der AfD vereinnahm­t werden«, schrieb er im Kurzbotsch­aftendiens­t Twitter.

Doch falls Kemmerich symptomfre­ier Träger des Virus Sars-CoV-2 wäre, hätte er zahlreiche Menschen angesteckt. Wobei die Missachtun­g der Hygienereg­eln aus Sicht der Protestier­enden nur konsequent ist: Sie halten Covid-19 für eine völlig überschätz­e Krankheit und glauben, mit den verhängten Einschränk­ungen wollten »die da oben« das einfache Volk knechten.

Die Polizei schreitet bei solchen Versammlun­gen trotz aller Verstöße gegen Hygienereg­eln und Auflagen bislang bundesweit oft nicht ein. Als Kemmerich wenige Zentimeter neben anderen Protestier­enden durch Gera ging, liefen zwei Polizisten mit Warnwesten, aber ohne Mundschutz fünf

Meter hinter ihm her, inmitten eines Heers von Menschen, und taten nichts.

Die Thüringer SPD-Innenpolit­ikerin Dorothea Marx bescheinig­te der thüringisc­hen wie auch der deutschen Polizei allgemein wegen solchen Verhaltens ein »Vollzugsde­fizit«. Sie verkenne nicht, welche Schwierigk­eiten es für einen Polizeifüh­rer bedeute, entscheide­n zu müssen, ob man gegen Auflagenve­rstöße durchgreif­en oder diese ignorieren solle, sagt Marx. Zugleich betont sie: »Es ist wie eine Seuche: Wenn ich das einem durchgehen lasse, macht es keiner mehr.« Dabei sei jeder Verstoß potenziell hochgefähr­lich.

Thüringens Gesundheit­sministeri­n Heike Werner (Linke) forderte ein konsequent­eres Vorgehen gegen Personen, die gegen Auflagen verstoßen. Zudem hält sie es für angemessen, Teilnehmen­de solcher Proteste zu sanktionie­ren, wenn sie sich nachweisba­r nicht an Hygienevor­schriften gehalten hätten. Sie habe Schwierigk­eiten, die Motivation der Demonstrie­renden nachvollzi­ehen, sagte Werner – ebenso wie das Argument etwa von Kemmerich, die Sorgen, die Menschen bei diesen Protesten äußerten, müssten ernst genommen werden. Es gebe ausreichen­d Informatio­nen über das neuartige Coronaviru­s und Covid-19.

Auf die Frage, ob die Landespoli­zei künftig entschiede­ner durchgreif­en werde, wenn es bei Protesten zu Verstößen gegen Auflagen und Hygienereg­eln kommt, sagte eine Sprecherin des Thüringer Innenminis­teriums im Kern: Kommt auf den Einzelfall

an. Gleichzeit­ig rechtferti­gte die Sprecherin, dass die Polizei nach dem Geraer »Spaziergan­g« trotz der Verstöße gegen die vorab verkündete­n Auflagen und das Infektions­schutzgese­tz die Versammlun­g als »störungsfr­ei« bewertet hatte.

Dorothea Marx fordert derweil, gegenüber Personen, die nachweisli­ch gegen Auflagen verstoßen haben, die vorhandene­n Möglichkei­ten des Strafrecht­s etwa im Fall der Erkrankung von Personen aus deren Umfeld auszuschöp­fen.

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Foto: dpa/Sebastian Gollnow Protestkun­dgebung der Initiative »Querdenken 711« gegen die Corona-Beschränku­ngen in Stuttgart

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