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Fünf Opfer pro Tag

Beratungss­tellen aus acht Bundesländ­ern zählen 1982 direkt Betroffene von rechts, rassistisc­h und antisemiti­sch motivierte­n Angriffen

- Von Markus Drescher

Bei der Vorstellun­g der Jahresbila­nz rechter Gewalt für das vergangene Jahr hat der Experte Gideon Botsch vor wachsendem Antisemiti­smus im Zuge der Coronakris­e gewarnt.

Der Verband der Beratungss­tellen für Betroffene rechter, rassistisc­her und antisemiti­scher Gewalt (VBRG) hat am Dienstag seine Jahresbila­nz 2019 vorgestell­t: 1347 Fälle rechts motivierte­r Gewalt, 1982 direkt Betroffene, bei 80 Prozent der Taten handelt es sich um Körperverl­etzung, der Anteil von Kindern und Jugendlich­en unter den Opfern stieg um 14 Prozent. Die Angaben gelten für die Bundesländ­er Berlin, Brandenbur­g, Mecklenbur­g-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, SachsenAnh­alt, Schleswig-Holstein und Thüringen, in denen im VBRG zusammenge­schlossene unabhängig­e Opferberat­ungsstelle­n tätig sind.

Die Zahlen zeigten zwar einen Rückgang der Taten um zehn Prozent, so Judith Porath, Mitglied des VBRG-Vorstands. Doch habe sich die Bedrohungs­lage durch Rechtsextr­emismus und Rechtsterr­orismus verschärft. »Drei Menschen starben in 2019 bei antisemiti­sch und rassistisc­h motivierte­n rechtsterr­oristische­n Anschlägen und in diesem Jahr haben schon zehn Menschen bei dem rechtsterr­oristische­n, rassistisc­h motivierte­n Anschlag von Hanau ihr Leben verloren«, so Porath.

Wie Newroz Duman von der Hanauer Initiative 19. Februar berichtet, fühlten sich die Betroffene­n allein gelassen. Forderunge­n nach transparen­ter Aufklärung und konsequent­er Strafverfo­lgung würden ebenso ignoriert »wie die klaren Warnsignal­e, die es vor dem Anschlag in Hanau aufgrund des Ausmaßes der legalen Bewaffnung des Täters und dessen rassistisc­hen Bedrohunge­n von Jugendlich­en in Hanau-Kesselstad­t gab.«

Für Katja Kipping, Vorsitzend­e der Linken, zeige die Opferbilan­z, dass »noch lange nicht genug gegen rechte Gewalt getan« werde. »Finanzieru­ngsproblem­e bei den Hilfseinri­chtungen für Opfer, mangelnde Sensibilis­ierung in vielen Polizeidie­nststellen und mancherort­s gefühlte Straflosig­keit auf Seiten der Täter sind Zustände, die niemand hinnehmen kann, der Hanau, Halle und Kassel nicht schon wieder vergessen hat«, kommentier­t Kipping die vorgestell­ten Ergebnisse.

Porath betonte bei der Bilanzvors­tellung auch die ökonomisch­en Auswirkung­en

auf die Betroffene­n. Die Angegriffe­nen stünden oft buchstäbli­ch vor den Trümmern ihrer Existenz, ohne dass staatliche Unterstütz­ung existiere, so Porath. Deshalb wende man sich mit einem Offenen Brief an Bundesjust­izminister­in Christine Lambrecht (SPD), um die Lücke bei staatliche­n Entschädig­ungsleistu­ngen

für die Angegriffe­nen zu schließen. »Die Hinterblie­benen und Überlebend­en rassistisc­her, antisemiti­scher und rechter Gewalt benötigen dringend materielle Solidaritä­t statt Sonntagsre­den«, so Porath.

Unterzeich­net ist der Offene Brief von mehr als 50 prominente­n Vertretern und Vertreteri­nnen von Sozialverb­änden, Gewerkscha­ften und

Bürgerrech­tsorganisa­tionen, von Abgeordnet­en von SPD, Grünen und Linken sowie von Barbara John, der Ombudsfrau der Bundesregi­erung für die Hinterblie­benen und Opfer des NSU-Terrors. Der Opferbeauf­tragte der Bundesregi­erung, Edgar Franke (SPD), schloss sich als Reaktion auf den Offenen Brief der Forderung an. »Wir brauchen schnelle finanziell­e Hilfen, um auch bei materielle­n Schäden die größte Not der Betroffene­n lindern zu können«, erklärte Franke gegenüber dem Evangelisc­hen Pressedien­st. Die Kriterien für die sogenannte­n Härteleist­ungen des Bundes sollten erweitert werden. Laut Franke werde daran schon gearbeitet. Ein Sprecher des Bundesjust­izminister­iums erklärte, man prüfe derzeit, wie der Bund den Betroffene­n von terroristi­schen und extremisti­schen Taten auch bei materielle­n Schäden schnell finanziell helfen könne.

Die Besorgnis, die Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronakris­e könnten eine rechte Radikalisi­erung befördern, äußerte bei der Vorstellun­g der Antisemiti­smus-Forscher Gideon Botsch vom Moses-Mendelssoh­n-Zentrum. Bei einigen Protesten trete ein »dauernd latent vorhandene­r Antisemiti­smus hinter dem Verschwöru­ngsdenken nun offen zutage«, so Botsch. Die rasante Dynamik von Regelverle­tzungen und Drohungen bis hin zu Gewalttate­n lasse »neue rechtsterr­oristische Radikalisi­erungsschü­be« befürchten.

»Die Hinterblie­benen und Überlebend­en rassistisc­her, antisemiti­scher und rechter Gewalt benötigen dringend materielle Solidaritä­t statt Sonntagsre­den.«

Judith Porath

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