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Hilfe nur bei Suiziddroh­ung

Wegen der Ausgangssp­erre gibt es in Österreich psychische Unterstütz­ung nur im Extremfall

- Von Stefan Schocher, Wien

Österreich hat die Abflachung der Infektions­kurve anscheinen­d ganz gut geschafft, doch der Preis ist unter anderem eine zum Teil dramatisch­e Versorgung­sknappheit in anderen Gesundheit­sfeldern.

Die Schulen praktisch geschlosse­n, die Kindergärt­en auf Notbetrieb, ein medizinisc­hes System im Alarmzusta­nd. Und während alles auf Infektions­zahlen und epidemiolo­gische Kurven schaut, beginnt der seit Mitte März anhaltende Total-Lockdown jetzt langsam aber sicher zu einem wirklichen Problem zu werden – vor allem für Jugendlich­e und Kinder. Es sind dann solche Antworten, die besorgte Eltern von Spitälern erhalten: »Solange ihr Sohn nicht droht, sich aus dem Fenster zu werfen oder Ihnen ein Messer an die Kehle hält, können wir nichts tun.«

Im konkreten Fall geht es um die Mutter eines Jugendlich­en, der seit zwei Monaten an die Decke starrt. Seit Anbeginn der Quarantäne war er nicht aus dem Haus, zu Schularbei­ten war er nicht zu bewegen, seit zwei Wochen hat er keinen Finger gerührt – nur unterbroch­en von hasserfüll­ten Schreianfä­llen. Die alleinerzi­ehende Mutter kontaktier­te den Psychosozi­alen Notdienst in Wien, eine telefonisc­he Anlaufstel­le für Akutfälle – der verwies auf das Allgemeine Krankenhau­s AKH in Wien, weil man selbst keine Diagnose stellen könne. Im AKH wiederum verwies man darauf, dass das Spital eben nur akute Notfälle betreuen und man keine Termine vergeben könne. Bei niedergela­ssenen Psychologe­n und Psychiater­n ebenfalls der Verweis auf das AKH. So ging es wochenlang hin und her – bis das AKH jetzt schließlic­h wieder begann, Termine auszugeben. Bis dahin ist aber viel Zeit vergangen.

Am Willen zur Hilfe mangelte es dabei nicht. Ganz im Gegenteil: Im AKH stieß die verzweifel­te Mutter auf offene Ohren und Verständni­s – ebenso bei niedergela­ssenen Psychother­apeuten und Psychiater­n sowie dem Psychosozi­alen Notdienst. Woran es anscheinen­d fehlt: am Stellenwer­t, den psychosozi­ale und psychother­apeutische Versorgung haben sollte.

»Es gibt genug Psychother­apeut*innen, die den Bedarf abdecken können«, sagt Barbara Haid vom Österreich­ischen Bundesverb­and für Psychother­apie. »Was fehlt, ist die Finanzieru­ng.« Sie glaubt, dass die »psychische Dimension dieser Krise« bisher »viel zu wenig auf der

Agenda war«. Vor allem aber: Sie ist überzeugt, dass der Bedarf steigen wird – dass es zugleich aber aufgrund wirtschaft­licher Gegebenhei­ten weit weniger Menschen geben wird, die sich eine Psychother­apie auch leisten können. Und: dass die Krankenver­sicherunge­n mit dramatisch geringeren Einnahmen aufgrund hoher Arbeitslos­igkeit letztlich eine sehr viel größere Menge an psychologi­schen Problemen zu meistern haben werden.

In Österreich sieht das System so aus: Die meisten Psychother­apeuten haben eine gewisse Anzahl voll finanziert­er Kassenplät­ze. Darüber hinaus gibt es eine von der Versicheru­ng getragene Teilfinanz­ierung – womit eine Stunde aber nach wie vor auf rund 60 Euro kommt. Barbara Haid fordert jetzt einen erleichter­ten Zugang sowie eine massive Aufstockun­g zu voll finanziert­en Plätzen. Und das werde man vom Gesundheit­sministeri­um auch einfordern. Aber ob sie da auf offene Ohren stoßen wird?

Auf die Normalisie­rungsmaßna­hmen der Bundesregi­erung, also die langsame Öffnung des Landes, angesproch­en, stellt es der eingangs erwähnten Mutter die Haare auf: Der Handel hat wieder offen, ebenso Nagelstudi­os oder Friseursal­ons. Aber die psychologi­sche Betreuung? Die fährt erst langsam wieder hoch – nach Öffnung der Gastronomi­e am vergangene­n Freitag.

Seitens des Gesundheit­sministeri­ums hieß es zu dem Thema auf Nachfrage: Die psychologi­schen Dienste hätten nie schließen müssen. Die Betreuung habe im vollen Umfang zur Verfügung gestanden. Viele Dienste hätten auch ihr Angebot in Form von Telefondie­nsten aufrechter­halten. Die Reaktion der Fachfrau Haid: »Ohne einen Jugendlich­en zu sehen, kann man keinen fundierten Befund erstellen.« Sprich: Wirklich behandelt werden könnten solche Probleme nur in direktem Kontakt.

Wovon seitens des Psychother­apeutenver­bandes jedenfalls ausgegange­n wird, ist ein massiver Anstieg des Bedarfs ab Herbst: mit einer Welle an Depression­en, Antriebslo­sigkeit, vermehrtem Substanzko­nsum und in Folge Suchterkra­nkungen, Angststöru­ngen, Panikattac­ken. Und je weniger darüber jetzt geredet werde, desto tiefer werde das Problem später einmal sitzen. »Bei Kindern und Jugendlich­en muss investiert werden, das ist frühe Erste Hilfe«, so die Psychother­apeutin. Seit dem Lockdown bleibt die frühe Erste Hilfe aus.

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Foto: imago images/Roland Mühlanger Corona erschwert den Weg zum Psychiater.

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