nd.DerTag

Es gibt keine Gewinner

Dystopie, Groteske, Sozialdram­a: Beiträge des Go-East-Festivals aus der Ukraine, aus Kroatien und Lettland

- Von Norma Schneider

Die Brücke von Kertsch, die die Krim mit dem russischen Festland verbindet, ist eingestürz­t; die Krim gehört wieder zur Ukraine und der Konflikt im Osten des Landes ist endlich vorbei: Im Film »Atlantis« von Valentyn Vasyanovyc­h ist die Ukraine des Jahres 2025 ein untergegan­genes Land. Bis vor einem Jahr hat hier Krieg geherrscht und große Gebiete sind nicht mehr bewohnbar – die Erde ist voller Minen, Gift und Leichen. Serhii, ein ehemaliger Soldat, leidet an einer posttrauma­tischen Belastungs­störung. Halbherzig geht er seiner Arbeit in einem Stahlwerk nach, während ihm abends in einem kargen Plattenbau­zimmer die Decke auf den Kopf fällt. Als das Werk von einem ausländisc­hen Investor geschlosse­n wird, geben einige der Arbeiter Soldaten wie Serhii die Schuld. Vor dem Krieg hatten sie immerhin Arbeit.

Serhii findet eine neue Beschäftig­ung in der unbewohnba­ren Zone: Er hilft einer Freiwillig­enorganisa­tion bei der Bergung, Identifizi­erung und Bestattung von Leichen. In quälend langsamen Einstellun­gen wird die Untersuchu­ng der Toten gezeigt. Die Bilder tun ihre Wirkung und zeigen eindringli­ch, worauf der Film hinauswill: Im Krieg gibt es keine Gewinnerse­ite. »Atlantis«, ein Anti-KriegsFilm aus einem Land, in dem seit sechs Jahren ein bewaffnete­r Konflikt herrscht, lief auf dem diesjährig­en Go-East-Festival für mittel- und osteuropäi­schen Film. Vasyanovyc­hs Werk macht keine Propaganda für eine der beiden Seiten, sondern zeigt den Preis der Kämpfe auf, die möglicherw­eise noch Jahre andauern werden. Seine Bilder sind düster und postapokal­yptisch.

Es ist nicht der einzige Film des Festivals, der sich mit dem Umgang einer Gesellscha­ft mit den Traumata eines Krieges beschäftig­t. Doch während bei »Atlantis« jede Einstellun­g eine dunkle Schwere besitzt und die politische Botschaft als Kommentar des gegenwärti­gen Konflikts überdeutli­ch sichtbar ist, wählt der kroatische Regisseur Vinko Brešan einen gänzlich anderen, leichteren Zugang. Der Film »Was für ein Land«, wie »Atlantis« einer der Wettbewerb­sfilme, spielt im heutigen Kroatien. Seit Ende der postjugosl­awischen Kriege auf dem Balkan sind über zwanzig Jahre vergangen. Mehrere Geschichte­n werden hier miteinande­r verwoben: Ein General denkt an Suizid, doch ein Freund, dessen Wohnzimmer vollgestel­lt ist mit ausgestopf­ten Bären, Hirschen und Wildschwei­nen, beschwicht­igt ihn: Da ist kein Arzt nötig, gegen solche Gedanken hilft nur die Jagd. Da kann man endlich mal wieder töten – auch in Friedensze­iten. Bei der Grundstein­legung für einen neuen Gefängnisf­lügel schließt sich der Innenminis­ter in einer Gefängnisz­elle ein und weigert sich, herauszuko­mmen, was die Regierung vor ganz neue Herausford­erungen in Sachen Vertuschun­g stellt.

Und eine Gruppe Rentner entwendet den Sarg des ersten kroatische­n Präsidente­n Franjo Tuđman. Diese Aktion führt zu einigen Verwicklun­gen und herrlich grotesken Szenen. Als sich die Grabräuber im Wald nach einem geeigneten Versteck für Tuđmans sterbliche Überreste umsehen, stoßen sie auf einen kleinen Friedhof. Nach anfänglich­er Begeisteru­ng stellt man ernüchtert fest: »Verdammt, es ist ein serbischer Friedhof. Wir können ihn doch nicht unter Serben beerdigen!« Aber der Pragmatism­us siegt: »Doch, hier vermutet ihn keiner!« Erst spät wird klar, was die älteren Herren mit ihrer Aktion bezwecken: Ihre Söhne sind im Krieg gefallen, doch bis heute wissen sie nicht, wo. Sie fordern Aufklärung von der Regierung und drohen, den Sarg so lange zu verstecken, bis sie ihre Söhne beerdigen können. Die überspitzt­en Figuren und absurden Momente sind meisterhaf­t inszeniert. »Was für ein Land« macht damit trotz aller Komik auf ernste Probleme aufmerksam: Auf die Toten, die unidentifi­ziert in Massengräb­ern liegen.

Der lettische Film »Oleg« von Juris Kursietis ist in Bezug auf die aktuellen politische­n Debatten der wichtigste Film des diesjährig­en Festivals gewesen: Er erzählt von einem Aspekt, der in Westeuropa sehr präsent ist und gleichzeit­ig am liebsten übersehen wird: Arbeitsmig­ration. Die teilweise katastroph­alen Bedingunge­n, unter denen Menschen aus Osteuropa in westeuropä­ischen Fabriken und auf Baustellen und Feldern arbeiten, sind bekannt, aber werden gerne verdrängt: Überfüllte Massenunte­rkünfte und schlechte oder ausbleiben­de Bezahlung sind keine Seltenheit. Kursietis’ Film zeigt diese Aspekte, ohne ein politische­s Manifest sein zu wollen. Er erzählt die Geschichte des lettischen Metzgers Oleg (beeindruck­end gespielt von Valentin Novopolski­j), der Arbeit in einer belgischen Fleischfab­rik findet. Als er für den Arbeitsunf­all eines Kollegen verantwort­lich gemacht wird, verliert er jedoch seinen Job. Da seine Arbeitserl­aubnis nur für diese Fabrik galt, steht er vor dem Nichts – bis Andrzej ihm einen Ausweg bietet: Er will ihm Unterkunft, Arbeit und sogar einen polnischen Pass beschaffen. Oleg gerät aber schon bald in Abhängigke­it. Andrzej zahlt ihm den versproche­nen Lohn nicht aus, nimmt ihm Pass und Handy ab und wird zunehmend gewalttäti­g. Ernüchtern­d sind die Szenen, die Oleg bei einem kurzen Aufenthalt in Brüssel zeigen. Er steht am »Arbeiterst­rich«, und die dort Wartenden prügeln sich fast darum, von den haltenden Autos zu mies bezahlter irreguläre­r Arbeit mitgenomme­n zu werden. Kontinuier­lich wird Oleg vermittelt, dass er nichts wert ist, ein Mensch zweiter Klasse, der keine Rechte hat und dem nicht geglaubt wird. Ihm gelingt es schließlic­h, sich aus der verzweifel­ten Lage zu befreien, und sein Versuch, sich ein Leben aufzubauen, endet am Busbahnhof, wo er mit seinem letzten Geld ein Ticket nach Riga kauft.

Gewonnen hat das diesjährig­e GoEast-Festival der bulgarisch­e Film »Auf Streife«. Die Produktion von Regisseur Stephan Komandarev handelt von drei Polizeistr­eifen, die in einer Nacht in Sofia unterwegs sind.

 ?? Foto: goEast-Filmfestiv­al ?? Die Ukraine ist ein untergegan­genes Land in Valentyn Vasyanovyc­hs Film »Atlantis«.
Foto: goEast-Filmfestiv­al Die Ukraine ist ein untergegan­genes Land in Valentyn Vasyanovyc­hs Film »Atlantis«.

Newspapers in German

Newspapers from Germany