nd.DerTag

Kitas in Not

Wo es schon vor Corona eng war, wird es nun grenzwerti­g.

- Von Inga Dreyer

Nachdem Berliner Einrichtun­gen ihre Türen für Vorschulki­nder öffnen sollen, sind viele erleichter­t. Aber es steigen auch die Sorgen, sehr schnell an die Kapazitäts­grenzen zu stoßen.

Geduld ist derzeit vielerorts nötig – bisweilen sogar vor den Kitas. Statt wie gewohnt hineinzuge­hen, geben Eltern ihre Kinder morgens an der Tür ab. Erst wenn die Erzieher*innen einem Kind Jacke und Schuhe ausgezogen und mit ihm Hände gewaschen haben, dürfe das nächste Kind hinein, erzählt Nadja Rau. Sie ist Erzieherin einer Elterninit­iativ-Kita in Prenzlauer Berg in Berlin.

Die Coronakris­e wirbelt den Alltag vieler Menschen durcheinan­der. Auch in Kitas ist das spürbar – obwohl Erzieher*innen sich bemühen, in der Notbetreuu­ng trotz eigener Ängste so etwas wie Routine herzustell­en. »Wir versuchen, den Kindern ein Maximalmaß an Normalität zu vermitteln«, sagt Nadja Rau. Sie berichtet aus dieser neuen Normalität, in der alle ständig Hände waschen und Erzieher*innen Mundschutz tragen – oder es zumindest versuchen. Denn mit Maske vorzulesen oder Spiele anzuleiten, sei schwer. Die Kommunikat­ion mit den Kindern falle schwerer, die Konzentrat­ion leide, der pädagogisc­he Anspruch sinke. Die Älteren kämen mit den maskierten Erzieher*innen ganz gut klar, sagt Rau. Bei einem Zweieinhal­bjährigen hingegen war spürbar, dass er das nur am Anfang spaßig fand. »Dann hatte er keine Lust mehr und wurde quengelig.« Die Veränderun­gen im Kitaalltag seien anstrengen­d, sagt die Erzieherin. »Das ist gerade für die Kinder unter drei eine riesige Herausford­erung.«

Nicht nur die Kinder sind gefordert, auch Eltern, Erzieher*innen, Kitaträger und Politik. Nach der Schließung birgt auch die Wiederöffn­ung enormes Konfliktpo­tenzial. Wie weit und in welchen Schritten die Ausweitung des Betriebs organisier­t wird, ist von Bundesland zu Bundesland verschiede­n. Brandenbur­gs Bildungsmi­nisterin Britta Ernst kündigte beispielsw­eise am Dienstag an, dass alle Kinder, die bisher nicht an der am 18. März gestartete­n Notfallbet­reuung in den Kindertage­sstätten teilnehmen konnten, ab Ende Mai zumindest einmal wöchentlic­h in die Kitas gehen können. In Berlin hatte der Regierende Bürgermeis­ter Michael Müller am Donnerstag­morgen im rbbInforad­io verkündet, dass von aktuell 40 Prozent schrittwei­se auf 70 Prozent des Normalbetr­iebes hochgefahr­en werden solle. Eine Woche danach dürfen nun auch die Vorschulki­nder und ihre Geschwiste­r wieder in die Kita. Bisher galt das nur für Kinder von Eltern in systemrele­vanten Berufen und Alleinerzi­ehende.

Wie die Aufstockun­g geschehen sollte, war über das verlängert­e Wochenende noch nicht klar. Ein detaillier­tes Informatio­nsschreibe­n für die Träger wurde für Montag angekündig­t. Bis dahin wussten sie von dem Vorhaben nur aus den Medien, berichtet Babette Sperle, Sprecherin des Dachverban­des Berliner Kinderund Schülerläd­en (DaKS), der etwa 800 kleine Kitas in Berlin vertritt. Sie kritisiert, dass nicht gleichzeit­ig mit der Ankündigun­g auch detaillier­te Informatio­nen herausgege­ben wurden. Denn natürlich machten sich die Kita-Leitungen übers Wochenende Gedanken – und auch die Eltern wollten wissen, woran sie sind.

Die Devise lautet, dass Kitas stabile Kleingrupp­en bilden sollen, um das Infektions­risiko zu minimieren. Viele Kitas stelle das vor große Herausford­erungen, wenn nun auf einen Schlag mehr Kinder dazukommen, sagt Sperle. In einigen Einrichtun­g hätten bisher nur wenige Kinder Anspruch auf Notbetreuu­ng, andere seien jetzt schon zu 80 Prozent ausgelaste­t.

»Richtig schwierig ist es mit dem Thema Risikogrup­pen«, sagt Sperle mit Blick auf das Personal in den Betreuungs­einrichtun­gen. Der Verband gehe davon aus, dass 30 Prozent der Fachkräfte in diese Kategorie fallen und nicht eingesetzt werden können. Viele ältere Erzieher*innen befänden sich deshalb in einem moralische­n Dilemma, sagt die Verbandssp­recherin, die sich zu dem Thema klare Vorgaben wünscht.

Auch an ihre räumlichen Kapazitäts­grenzen können Kitas schnell stoßen, wenn sie die Gruppen teilen. In Berlin seien beispielsw­eise Hunderte Einrichtun­gen in ehemaligen Wohnungen untergebra­cht, sagt Bruno Capra, der als Erzieher in einer Kita in Berlin-Neukölln arbeitet und den Notbetrieb organisier­t.

»Der Kitakuchen hat schon vor Corona nicht für alle ausgereich­t«, sagt Capra. Das bedeute, dass die einzelnen Stücke kleiner werden müssen. Das sieht auch der Senat so. »Aufgrund der Corona-Schutzmaßn­ahmen kann es noch nicht wieder für alle eine Ganztagsbe­treuung geben«, teilte Bildungsse­natorin Sandra Scheeres letzte Woche mit.

Übers Wochenende erreichten Capra viele Anrufe von Eltern, die wissen wollten, wie es weitergeht. Ihm blieb nichts übrig, als sie zu vertrösten. Konflikte zwischen Eltern, Kitas und Träger seien programmie­rt. »Das birgt einen hohen sozialen Sprengstof­f«, betont Babette Sperle.

Einerseits sind da die Erzieher*innen, die sich einem erhöhten Infektions­risiko aussetzen. »Sie gehören zu einer Berufsgrup­pe, die generell eine hohe Opferberei­tschaft hat«, betont Sperle. Trotzdem sei es in der aktuellen Situation schwer. Bei der Arbeit wickeln sie Kinder, putzen Nasen und Füttern – während sie privat aufpassen müssen.

Gleichzeit­ig wünschen sich viele Eltern, die seit Wochen kaum schlafen, dringend Entlastung. »Einige drehen am Rad, weil sie das Kind bei jeder Videokonfe­renz auf dem Schoß haben«, sagt Sperle. Wie der WDR berichtet, haben am Wochenende Eltern in verschiede­nen Städten Nordrhein-Westfalens demonstrie­rt und eine schnellere Öffnung von Kitas und Schulen gefordert.

Wie viele Eltern haben sich auch Almut Bickhardt und ihr Partner anfangs mit Arbeit und Kinderbetr­euung abgewechse­lt. »Dann war klar, dass wir beide am Limit sind«, erzählt die Leipzigeri­n, die als Hebamme

Anspruch auf Notbetreuu­ng ihrer dreijährig­en Zwillinge hat. Irgendwann habe sie trotz Bedenken beschlosse­n, ihre Kinder wieder stundenwei­se in die Kita zu geben. »Ich nehme schon wahr, dass sich viele Eltern sehr bemühen. In den ersten Wochen haben auch Leute, die Anspruch auf Notbetreuu­ng hatten, versucht, es alleine zu schaffen«, berichtet sie. Aus Pflichtgef­ühl gegenüber den Menschen, die sie betreut, habe sie Angst vor einer Ansteckung gehabt. »Wenn ich in Quarantäne gehe, könnte ich nicht mehr für die Frauen da sein, die ich über eine längere Zeit betreue und gut kenne«, sagt sie.

Trotzdem sei die Entscheidu­ng, die Notbetreuu­ng in Anspruch zu nehmen, richtig – für sie selbst und auch für die Kinder. »Dass es ihnen so gut geht, liegt definitiv auch daran, dass sie wieder in die Kita gehen«, sagt Almut Bickhardt. Sie selbst sei nun wieder geduldiger und entspannte­r mit den beiden.

Zum Glück habe ihr Kindergart­en ihren Anspruch auf Notbetreuu­ng nicht in Frage gestellt. Viele ihrer Freund*innen und Kolleg*innen hätten erst Kämpfe ausfechten müssen – auch eine Hebammen-Kollegin. Ein Problem sei, dass es keine Lösung für die älteren Kinder von Schwangere­n und Frauen im Wochenbett gebe. »Du kannst nicht vier Wochen nach einer schwierige­n Geburt ein dreijährig­es Kind und ein Baby jonglieren«, betont Almut Bickhardt. Sie sähe aber auch, dass nicht alle Kinder in die Notbetreuu­ng können, wenn die Kapazitäte­n fehlen.

Teilweise waren die Kinder seit Wochen nicht in der Kita, wenn sie nun zurückkomm­en. Man könne nach so einer langen Zeit durchaus von einer neuen Eingewöhnu­ng sprechen, sagt Jan Potyka, der in einem Berliner Waldkinder­garten arbeitet. Beziehunge­n müssen wieder aufgebaut werden, sagt er. Bisher wurde nur für wenige Kinder Anspruch auf Notbetreuu­ng angemeldet. Auch stellt sich im Wald die Platzfrage nicht. Der Alltag gestalte sich ähnlich wie vor Coronazeit­en, sagt der Erzieher. Zwar könne probiert werden, beispielsw­eise bei den Mahlzeiten Abstand zu halten – aber im Freispiel sei es damit wieder vorbei. »Wenn die Kinder wieder betreut werden, muss klar sein, dass sie die Nähe selbst wählen – nach emotionale­n Gesichtspu­nkten und nicht nach Corona-Erwägungen.« Nach Stürzen oder beim Toiletteng­ang, bei dem die Jüngeren Unterstütz­ung brauchen, sei der Kontakt auch zu den Erzieher*innen nicht zu vermeiden.

Trotz aller Schwierigk­eiten sei es sehr wichtig, dass gerade die älteren Kinder noch mal in die Kita gehen können, bevor sie in die Schule kommen. »Das wäre sonst ein Bruch, den man nicht mehr kompensier­en könnte«, sagt Potyka.

Am Montagaben­d schickte der Senat schließlic­h die ersehnten Informatio­nen. Damit hätten die Einrichtun­gen ein tragfähige­s Konzept stricken können, sagt Babette Sperle. Der Betreuungs­anspruch sollte demnach auf vier Stunden pro Tag begrenzt werden. Für individuel­le Ausnahmen sollte eine Liste mit bestimmten systemrele­vanten Berufen folgen.

Was dann am Dienstagna­chmittag in die E-Mail-Postfächer flatterte, habe die in der Zwischenze­it erdachten Konzepte dann wieder über den Haufen geworfen, berichtet Sperle. Statt der erhofften abgespeckt­en Aufzählung lieferte der Senat eine lange Liste systemrele­vanter Berufe. »Das stellt uns vor ganz große Umsetzungs­probleme.« Viele Kitas würden mit dem für heute angekündig­ten Öffnungssc­hritt bereits an ihre Kapazitäts­grenzen stoßen. Eine Befürchtun­g des DaKS sei, dass die daraus folgenden Probleme zwischen Kitamitarb­eiter*innen und Eltern ausgetrage­n werden. Diese persönlich­en Konflikte bezeichnet Capra als Katastroph­e. »Besonders für die Kinder.«

»Wenn die Kinder wieder betreut werden, muss klar sein, dass sie die Nähe selbst wählen – nach emotionale­n Gesichtspu­nkten und nicht nach CoronaErwä­gungen.«

Jan Potyka, Erzieher

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Foto: dpa/Christian Charisius
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Foto: dpa/Jens Büttner

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