Rom verteilt Geldspritzen
Italiens Regierung setzt 55 Milliarden Euro für wirtschaftliche Wiederbelebung ein
Rom. Mit einem neuen riesigen Hilfsprogramm soll der Absturz der drittgrößten Volkswirtschaft der Eurozone gebremst werden. Am Mittwoch stellte Italiens Ministerpräsident Giuseppe Conte in Rom das Programm zur Wiederbelebung »Decreto Rilancio« vor. Mit breit gestreuten 55 Milliarden Euro will die Regierung Unternehmen und Bürgern helfen, die Folgen der Coronakrise und der Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie zu verdauen.
Über die Maßnahmen war in der Koalition aus sozialdemokratischer PD und populistischer Fünf-Sterne-Bewegung heftig gestritten worden. Bereits im März hatte Rom mit einem 25-Milliarden-Paket die Krise zu lindern versucht. Trotz erfolgter Lockerungen und der Wiederaufnahme von Handel und Produktion wird für dieses Jahr mit einem Einbruch der Wirtschaft um etwa zehn Prozent gerechnet. Auch die Steuereinnahmen der öffentlichen Hand dürften drastisch zurückgehen.
Gestützt werden fast sämtliche Wirtschaftszweige. Allein drei Milliarden Euro gehen an die seit Jahren insolvente Fluggesellschaft Alitalia, die im Frühsommer verstaatlicht und neu strukturiert wird. Programme sind auch zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen geplant. Finanzielle Anreize sollen den ökologischen Umbau des Nahverkehrs in den größeren Städten vorantreiben. Geld zum Leben erhalten Erwerbslose und bedürftige Familien. Zumindest vorübergehend sollen Tausende Migranten ohne Papiere, die als Erntehelfer in Italiens Landwirtschaft unverzichtbar sind, einen Aufenthaltstitel erhalten.
Italien wurde mit bisher 31 000 Toten stark von der Covid-19-Pandemie getroffen. Die Krise macht eine Konsolidierung seiner Staatsverschuldung zur Fiktion. Auch andere südliche EU-Länder wie Griechenland, Spanien und Portugal trifft die derzeitige wirtschaftliche Krisensituation hart.
Laut der Europäischen Zentralbank könnte die Wirtschaftsleistung der Währungsunion dieses Jahr um bis zu zwölf Prozent einbrechen. Besonders betroffen sind die ehemaligen Eurokrisestaaten.
Als 2007/8 die Finanzmärkte bebten, stemmten sich die Staaten dagegen. Banken wurden mit Milliardenpaketen gerettet. Was danach folgte, ist bekannt: Aus einer Banken- wurde eine Staatsschuldenkrise, und eine politische Krise folgte. Jahrelang hielt die Eurokrise Europa in ihrem Bann. Diesmal ist zwar einiges anders: Nicht die Finanzwelt bebt, sondern eine Pandemie erschüttert derzeit die Welt, und nicht die Banken werden gerettet, sondern die gesamte Wirtschaft. Doch Andrew Watt sorgt sich, dass sich die Geschichte wiederholen könnte. »Eine neue Schuldenkrise ist durchaus eine Gefahr«, sagt der Experte für europäische Wirtschaftspolitik am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Die Zahlen von Europäischer Zentralbank (EZB) und EU-Kommission geben ihm recht. Die Konjunktur in der Eurozone breche dieses Jahr um fünf bis zwölf Prozent ein, sagt die EZB in ihrem am Donnerstag veröffentlichten Wirtschaftsbericht voraus. »Das Euro-Währungsgebiet steht vor einem Konjunktureinbruch von einem in Friedenszeiten noch nie dagewesenen Ausmaß und Tempo«, schreiben die Zentralbankökonomen. Damit einher geht ein Anstieg der Staatsschulden – in der Währungsunion im Schnitt von 86 Prozent auf 102,7 Prozent der Wirtschaftsleistung, wie die EU-Kommission vergangene Woche prognostizierte.
»Es besteht die Gefahr, dass dieselben Fehler wie nach der Finanzkrise gemacht werden«, warnt deshalb Ökonom Watt. Er befürchtet, dass es nächstes Jahr, wenn vielleicht das Gröbste überstanden sei, wieder heißen könnte, dass man den Gürtel enger schnallen müsse, dass die Regierungen also wieder Sparprogramme auflegen, weil sie so den Schuldenstand wieder nach unten drücken wollen. Doch zeigte die Eurokrise, dass dies die Situation nur noch schlimmer macht, die Wirtschaftsleistung wieder einbrechen lässt und zu sozialen Verwerfungen führt.
Zwar hat die EZB bereits auf die Coronakrise reagiert und ein neues Anleihenkaufprogramm aufgelegt. Auch der Euro-Rettungsschirm ESM steht mit seinen Mitteln bereit. Doch reicht dies laut Watt eben nicht aus, um zu verhindern, dass es zu einer neuen Eurokrise kommt.
Besonders tragisch ist für den gewerkschaftsnahen Ökonomen, dass es ausgerechnet die ehemaligen Eurokrisenstaaten Griechenland, Spanien, Italien und Portugal wieder besonders hart trifft: »Diese Länder haben sich – bis auf Italien – gerade erst wieder von der Eurokrise erholt. Selbst Griechenland war auf einem guten Weg.« Nun prognostiziert die EUKommission bei Griechenland ein Einbruch der Wirtschaftsleistung von 9,7, bei Spanien von 9,4, bei Italien von 9,5 und bei Portugal von 6,8 Prozent.
Für Spanien und Italien sind die Prognosen besonders düster, weil dort die Pandemie extrem wütete. Mit über 27 000 beziehungsweise über 31 000 Verstorbenen führen sie die traurige Liste der meisten Todesopfer innerhalb der Eurozone an. Laut Watt kommt hinzu: »Diese Länder wurden besonders dort getroffen, wo ihre Wirtschaft besonders stark mit der Weltwirtschaft verbunden ist.« In Spanien ist dies Katalonien, in Italien die Lombardei, das industrielle Zentrum des Landes. So sank die italienische Industrieproduktion im März um 28,4 Prozent. Das ist der größte Rückgang seit Beginn der Datenerhebung 1990. Dazu kommt, vor allem in Griechenland, eine starke wirtschaftliche Abhängigkeit vom Tourismus.
Dass das Virus sich besonders in Regionen ausbreitet, die wirtschaftlich stark und eng mit der Weltwirtschaft verknüpft sind, zeigt sich auch in Deutschland. Während in strukturschwachen Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern die Fallzahlen eher gering sind, liegen die Hotspots im exportstarken Süden, in Bayern und Baden-Württemberg.
Laut Watt macht dieser Zusammenhang es noch schwerer vorhersagbar, wie es nach dem ersten Schock weitergeht. Im glücklichsten Fall ist die Pandemie in Europa schon im Sommer einigermaßen gebannt, doch in anderen Regionen der Welt wird sie wahrscheinlich noch weitergehen. Und das hat Auswirkungen auf den globalen Warenverkehr und wiederum auf die hiesige Wirtschaft. Nur bei einer Sache ist sich Watt sicher: »Es wird sicherlich nicht so schnell wieder bergauf gehen, wie es bergab ging.« Auch Ende 2021 werde das VorCorona-Produktionsniveau noch nicht wieder erreicht sein.
Vor allem bereitet den Ökonomen große Sorgen, dass es im Herbst oder Winter zu einer zweiten Welle kommen könnte: »Solange es keinen Impfstoff oder ein wirksames Medikament gibt, bleiben wir verwundbar.« Die Folge einer solchen zweiten Welle wäre, dass es wieder zu schärferen Kontaktbeschränkungen kommen müsste. Und das wiederum würde die Wirtschaftsleistung in den Keller sacken lassen.
Forderungen aus dem Unternehmerlager, die Beschränkungen schnell zu lockern, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, sind also kurzsichtig. Sie könnten sich durchaus als Bumerang erweisen, die Auswirkungen auf die Konjunktur verstärken und so die Krise verlängern.
Wie lange die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie in Europa zu spüren sein könnten, macht eine Studie deutlich, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung am Mittwoch veröffentlichte. Darin wurde untersucht, wie sehr sich für europäische Unternehmen die Aufnahme von frischem Kapital seit dem Ausbruch der Coronakrise verteuerte. Am stärksten stiegen die geforderten Renditen für Anleihen mit einer Restlaufzeit von fünf Jahren. »Dies legt nahe, dass die Investoren an den Finanzmärkten nicht davon ausgehen, dass schon in diesem oder kommenden Jahr die Wirtschaft die Schäden ausgleichen kann, die durch die Corona-Maßnahmen verursacht wurden«, so Studienautorin Chi Hyun Kim.
Unterdessen weist die Coronakrise für Watt einen wesentlichen Unterschied zur Eurokrise auf: »Bei der Eurokrise konnte die Bundesregierung noch sagen, dass die Krisenländer selber schuld seien.« Dies sei in der Coronakrise nicht mehr möglich. »Und das macht es leichter, Unterstützungsmaßnahmen durchzusetzen«, ist Europa-Experte Watt zumindest in einer Sache verhalten optimistisch.
Die ökonomischen Folgen der Coronakrise sind für die ehemaligen Eurokrisenländer im Vergleich zum Rest der EU besonders schwer. Griechenland, das die Pandemie bisher eigentlich recht gut überstanden hat, wird es wirtschaftlich am härtesten treffen.
»Es besteht die Gefahr, dass dieselben Fehler wie nach der Finanzkrise gemacht werden.«
IMK-Ökonom Andrew Watt