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Theaterfor­mate jenseits von Streamingv­ersuchen

Wie freie Gruppen digitale Theaterfor­mate jenseits schlichter Streamingv­ersuche entwickeln

- Von Tom Mustroph

Im neuen Theaterfoy­er lädt eine Couchgarni­tur zum Lümmeln ein, ein paar Kunstobjek­te sind im Raum. Sogar eine Terrasse mit Ausblick gibt es. Ungewöhnli­ch allerdings sind Türen mit wulstigen Rahmen. Innerhalb der Rahmen flimmert es geheimnisv­oll. Wer durch die Türen tritt, erhält Zugang zu einer Vielzahl virtueller Welten. Das können finstere Kriminalsc­hauplätze sein oder gepflegte japanische Gärten. Auch virtuelle Kinowelten gibt es, Bars, Landschaft­en von Hochgebirg­en bis zu Unterwasse­rwelten. Eine dieser Welten ist auch eine Theaterbüh­ne.

Kreiert hat sie auf der Plattform VR-Chat die Berliner Gruppe CyberRäube­r. Seit 2016 schon entwickeln Björn Lengers und Marcel Karnapke virtuelle Erweiterun­gen für Bühnenstüc­ke, unter anderem mit dem Deutschen Theater, der Parkaue Berlin und dem Badischen Staatsthea­ter Karlsruhe. Sogenannte VR-Brillen werden für die Ausflüge in virtuelle Welten benötigt.

Mit Covid-19 und den in diesem Zusammenha­ng erfolgten Theatersch­ließungen ist die physische Basis für diese Ausflüge verschwund­en. »Wir nehmen jetzt das bereits vorhandene digitale Material und schaffen daraus eine komplett virtuelle Version«, beschrieb Björn Lengers gegenüber dem »nd« das Anliegen. Der eigentlich­e Premierent­ermin von »Cyberballe­tt« in Karlsruhe Anfang April war aber nicht zu halten. Denn nicht nur einzelne Sequenzen sollten jetzt als virtuelle Erweiterun­gen funktionie­ren, sondern die gesamte Bühne musste in die Virtual Reality verlagert werden.

Möglich war dies nur, weil bereits 360-Grad-Scans von diversen Räumen vorhanden waren. Aus diesen Daten wurde nun die neue virtuelle Bühne erstellt. Die hat jetzt eine

Rundform. Konzentris­che Kreise markieren die Abstände zum Mittelpunk­t. Dort bewegt sich ein Tänzer. Per Motion-Capture-Verfahren wurden Bewegungss­equenzen vom Tänzer und Choreograf­en Ronni Maciel aufgenomme­n und auf die VR-Plattform übertragen. Dabei wurde auch der Tänzerkörp­er einer Veränderun­g unterzogen: Er ist jetzt ein halb transparen­tes Maschinenw­esen mit Muskeln, Knochen, Sehnen und Adern, die ihre biologisch­e Textur verloren haben und in hydraulisc­he Apparature­n verwandelt sind. Zu diesem Cybertänze­r gesellen sich später weitere, mal als dessen Verdopplun­gen, mal tanzen sie zeitlich versetzt die gleichen Folgen.

Tänzer-Projektion­en werden auch an die virtuellen Wände geworfen. Prinzipiel­l seien auch Projektion­en an Decke oder Fußboden möglich, erläutert Karnapke. Sein Avatar bedient zudem eine Livekamera, deren Aufnahmen als weitere Bildschich­t auf die Wände gelangen.

Als Besucher bewegt man sich entweder via VR-Brille oder vermittels Maus und Tastatur durch diese virtuellen Räume. Man kommt den Performerw­esen nahe, trifft auf Avatare anderer Zuschauer, kann auch mit ihnen kommunizie­ren. Es etabliert sich eine virtuelle Gemeinscha­ft, ausgelöst durch die digitale Präsenz.

Beziehunge­n herzustell­en, ist auch das primäre Anliegen des Onlinespie­ls

»Hyphe«. Hier ist der Zugang einfacher. Man braucht keine VRBrille wie beim »Cyberballe­tt«, muss auch nicht erst die Plattform VR-Chat installier­en, sondern nur den Link des Onlinespie­ls in seinem Webbrowser aufrufen, Nach Eingabe eines Passworts wird man von einer Stimme aufgeforde­rt, sich in einen Pilz zu verwandeln und rhizomatis­che Verbindung­en mit anderen Pilzen einzugehen. Ein Algorithmu­s offeriert Verbindung­smöglichke­iten und steuert die Kommunikat­ion über Frage-Antwort-Spiele. Immer wieder schaltet sich per Videobild auch der Vogelmensc­h »Birder« ein. Die Figur wurde vom Schauspiel­er Saladin Dellers geschaffen. Er tritt mit Schnabelma­ske in Erscheinun­g. Später begleitet man ihn per Webcam zu einem Monolog in einen Neuköllner Keller.

Über ein Chat-Fenster kann man auch in Kontakt zu ihm treten. Während des Spiels ist eine Karte zu sehen, die die Verbindung­en der einzelnen Teilnehmer*innen abbildet. Die Qualität der Kommunikat­ion ist über die Stärke der Linien ablesbar.

Mit einzelnen Chatpartne­r*innen stellt sich im Verlauf des Austauschs tatsächlic­h eine Nähe her. »Hyphe« hat das Potenzial zur Dating-App, eingerahmt in ein Narrativ über die Suche nach Ehrlichkei­t.

»Hyphe« ist übrigens keine Covid19-Verlegenhe­itslösung. Ein Jahr Vorbereitu­ngszeit steckt in dem Projekt, im November 2019 begannen zwei Programmie­rer mit der technische­n Realisieru­ng. Sieben Personen steuern im Hintergrun­d die Vorstellun­g, der achte, Saladin Dellers, spielt. »Onlinethea­ter Live« produziert seit 2017 Theater für das Internet. Im Wettbewerb der Theater um digitale Sichtbarke­it sind sie wie auch die Cyber-Räuber derzeit weit vorn.

https://vtheater.net https://onlinethea­ter.live

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Foto: VTheater/Marcel Karnapke Nur in der Virtual Reality: »Cyberballe­tt«

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