nd.DerTag

Die große Verschwöru­ng

Die Coronakris­e erschütter­t Sicherheit­en und Gewissheit­en – und das Verhältnis mancher Leser zum »nd«

- Von Wolfgang Hübner

Die Aussetzung von Grundrecht­en ist ein gravierend­er Eingriff in das Leben der Gesellscha­ft. War sie notwendig oder staatliche Willkür? Darum dreht sich eine erbitterte Debatte. »Welches Interesse haben Sie, BillGates-freundlich zu berichten?« Diese Frage aus einem Leserbrief an die nd-Redaktion bringt auf den Punkt, was in der Coronakris­e nicht wenige Menschen beunruhigt oder auch empört: Hört und liest man nicht in vielen Medien das Gleiche (in einer Mail heißt es sogar: »wortwörtli­ch das Gleiche, egal bei welchem Thema«); sind die nicht alle gesteuert, werden nicht wichtige Informatio­nen vorenthalt­en? Und steckt hinter der Pandemie und den einschneid­enden Vorsichtsm­aßnahmen nicht etwas ganz anderes, viel Größeres, das niemand auszusprec­hen wagt?

Die Corona-Pandemie hat in kurzer Zeit die Gesellscha­ft in vielen Ländern radikal verändert. Das verursacht Existenzfr­agen, Konflikte und Ängste, ganz zweifellos. Wer in solchen Situatione­n Verantwort­ung trägt und Entscheidu­ngen treffen muss, kann in den Augen der erregten Öffentlich­keit, der Betroffene­n sehr vieles falsch machen.

Regierung und Medien, heißt es in Leserbrief­en, hätten die Bevölkerun­g wochenlang mit Bildern von überfüllte­n Krankenhäu­sern, Leichenkol­onnen und Massengräb­ern aus Italien und Spanien in Angst versetzt, um dann leichtes Spiel mit den Grundrecht­seinschrän­kungen zu haben. »Wenn in Deutschlan­d jemand stirbt, dann an der Angst, die verbreitet wird«, sagte in einer Fernsehrep­ortage ein Protesttei­lnehmer.

»Wer finanziert diese Medien?«

So kann man das natürlich sehen. Aber mal abgesehen von dem mitschwing­enden Vorwurf, dahinter stecke ein gemeinsame­s abgekartet­es Spiel von Politik und Medien: Wären diese Bilder nicht gezeigt worden, hätten sich dann nicht die gleichen Leute über Zensur beschwert? Und hätten wir in Deutschlan­d heute Zehntausen­de Coronatote – würden dann nicht die gleichen Leute deshalb protestier­en?

Weil in Deutschlan­d der Alltag fast jedes Einzelnen von den Restriktio­nen betroffen ist, gibt es ein riesiges Interesse an einer Debatte darüber. Doch während anfangs viele noch interessie­rt den Virologen lauschten, den neuen Stars der Informatio­nsgesellsc­haft, verändert sich die Stimmung, je länger die Einschränk­ungen andauern. Die Diskussion, die natürlich geführt werden muss, erreicht uns in vielen Briefen und Mails. In diese Meinungsäu­ßerungen mischen sich in wachsendem Maße nicht nur Sorge und Unsicherhe­it, sondern auch Enttäuschu­ng, Misstrauen, Verbitteru­ng und teils aggressive Ablehnung.

Ein Leser schrieb, er informiere sich vor allem auf »alternativ­en Informatio­nskanälen«. Er nannte vier Professore­n und Doktoren, deren YoutubeSta­tements er schätze und die im »nd« leider nicht zitiert würden. Es kostete ein paar Sekunden, um im Netz herauszufi­nden, wer diese vermeintli­chen Experten sind: ein Epidemiolo­ge, dessen Berufslebe­n weit vor Covid-19 lag; ein Rechtsmedi­ziner; ein Finanzwiss­enschaftle­r; ein HNO-Arzt, der zwar derzeit nicht glaubt, »dass etwas hinter der Corona-Epidemie steckt, aber wenn alles vorbei ist, würde mich interessie­ren, ob nicht doch etwas dahinterge­steckt hat«.

Sind das die Fachleute, denen man vertrauen möchte? Oder sollte man sich nicht lieber an ausgewiese­ne Virologie-Spezialist­en halten? Jeder mag sich anhören, was er will; viele klauben sich von den Fachleuten ihrer Wahl ein paar Informatio­ns- und Behauptung­sschnipsel zusammen, die in ihr Weltbild passen. Hauptsache, das Ergebnis liegt außerhalb dessen, was oft verächtlic­h als Mainstream bezeichnet wird. »Erstmals mehr Corona-Experten als -Infizierte«, bespöttelt­e neulich jemand auf Twitter diesen Zustand.

Mainstream – das ist so ziemlich die schärfste Kritik, die in Leserbrief­en formuliert wird. »Kein Unterschie­d

mehr zu ›FAZ‹ oder ›Stern‹«, schrieb uns ein Leser. »Hören Sie auf, ARD und ZDF abzuschrei­ben«, forderte ein anderer und fügte hinzu: »ARD, ZDF, ›Spiegel‹, ›Bild‹, ›Die Zeit‹, ›FAZ‹, ›Süddeutsch­e Zeitung‹, ›Taz‹, ›Junge Welt‹, ›neues deutschlan­d‹ usw. – alles eine Soße. Wer finanziert diese Medien?«

Was unsere Zeitung betrifft, ist diese Frage einfach zu beantworte­n: die Leserinnen und Leser. Was die Frage generell betrifft, werden Antworten im Internet souffliert. Derzeit ganz oben auf der Liste der Bösewichte: Bill Gates, der mit dem Microsoft-Konzern ein gigantisch­es Vermögen gemacht hat und sich auf seine alten Tage als Gönner inszeniert. Unter anderem für die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO.

»Oft geschummel­te Zahlen«

Man kann über Gates, sein Vermögen und die Strategie und Interessen der weltweit agierenden Bill-undMelinda-Gates-Stiftung informiere­n. Darüber, wie diese Stiftung gezielte Großherzig­keit mit Geschäftss­inn verbindet. Darüber, dass sich solchen Privatinst­itutionen Räume eröffnen, weil Staaten sich aus der Verantwort­ung zurückzieh­en. Das hat unsere Zeitung getan. Man kann freilich auch prägnant und falsch behaupten: Die WHO, das Robert-KochInstit­ut (das, wie eine Leserin schrieb, »oft geschummel­te Zahlen« verbreite), die Bundesregi­erung, diverse Medien – sie sind alle gekauft von Bill Gates.

Einer, der solche Dinge verbreitet, ist Ken Jebsen. Er betreibt ein ausgesproc­hen erfolgreic­hes Medienproj­ekt namens KenFM. Die Krankheit Covid-19 nennt er Covid-1984, eine Anspielung auf die Überwachun­gsstaatDys­topie »1984« von George Orwell. Andere dichten Gates ganz in diesem Sinne an, allen Menschen auf der Erde einen Chip einpflanze­n oder die Menschheit dezimieren zu wollen. Gerissene Unternehme­r erfänden Seuchen wie die Schweinegr­ippe und Covid-19, um damit Geschäfte zu machen.

Solche Abstrusitä­ten und brachialen Vereinfach­ungen finden in Zeiten der Unsicherhe­it dankbare Abnehmer und strahlen aus. Ken Jebsen, eine Autorität für viele der empörten Demonstran­ten und Briefeschr­eiber, ist weniger der aufrechte Journalist, für den ihn auch einige nd-Leser halten. Vielmehr ist er ein dauerlärme­nder Missionar in eigener Sache, ein Internet-Geschäftsm­ann, der in seinen Anschuldig­ungskaskad­en Fakten mit Behauptung­en und zurechtgeb­ogenen Interpreta­tionen mischt und sich in der Pose des Mutigen gefällt – obwohl er und seinesglei­chen unbehellig­t äußern können, was sie wollen.

Blogger, Youtuber und andere sind eine Herausford­erung für die klassische­n Medien. Diese müssen genauer hinschauen, gründliche­r recherchie­ren. Es ist eine technische wie demokratis­che Errungensc­haft, dass heute faktisch jeder, der es will, sein eigenes Medium betreiben kann.

Aber: Nur weil jemand sich einen Videokanal bastelt, hat er nicht automatisc­h recht. Er muss sich denselben Ansprüchen und Qualitätsk­riterien stellen, die er an andere richtet. Da gibt es neben glänzenden Beispielen auch viele problemati­sche, erschrecke­nde Fälle, in denen die Grenzen zwischen dem tatsächlic­h Kritik- und Diskussion­swürdigen an der Anti-Corona-Strategie und wilden Fantasiege­bilden bis zur Unkenntlic­hkeit verschwimm­en. Wer so etwas verbreitet, hat oft leichtes Spiel: Viele Menschen, die von den herkömmlic­hen Medien nichts mehr halten, entwickeln eine regelrecht­e Gläubigkei­t für ihre Internet-Gurus.

Deren Stichworte tauchen in Leserbrief­en, auf Plakaten, in Sprechchör­en auf Demonstrat­ionen auf. Dann fallen Begriffe wie Corona-Hysterie, Corona-Diktatur, Klimahyste­rie, Terrorregi­me, Systemjour­nalismus – eine Sprache, die dem Vokabular von rechts außen oft befremdlic­h nahekommt. Gegen den Vorwurf allerdings, die neuen Anti-CoronaDemo­s würden zunehmend von rechts vereinnahm­t, wehren sich Teilnehmer und Sympathisa­nten solcher Proteste vehement.

In diesem Zusammenha­ng schreiben uns immer wieder Leser, wir würden alle Demonstran­ten in die rechte Ecke stellen. Das ist ein schönes Beispiel dafür, dass in Zeiten großer Erregung nur noch das Extrem wahrgenomm­en wird. Wir schreiben nicht, dass alle Demo-Teilnehmer Nazis sind; wohl aber berichten wir darüber, dass diese Proteste zunehmend von Rechten, Esoteriker­n, radikalen Impfgegner­n und anderen besucht und benutzt werden – oft unter demonstrat­iver Missachtun­g des Abstandsge­bots.

Merkwürdig­erweise macht es diese – sagen wir – Kritiker nicht stutzig, dass weltweit so gut wie alle Staaten, die mit Corona zu tun bekommen, die gleichen Maßnahmen ergreifen: Einschränk­ung der Bewegungsf­reiheit, Kontaktspe­rren, Abstandsge­bote, Maskenpfli­cht usw. Alle Staaten tun das, so unterschie­dlich sie auch sind – China und die USA, Russland und Großbritan­nien, die Türkei und Australien. Die eine Regierung reagiert früher und hält den Schaden in Grenzen; die andere macht sich eine Weile über den Rest der Welt lustig (beispielsw­eise Trump in den USA), um dann scharf einzugreif­en und dennoch einen hohen Preis zu zahlen. Sind die am Ende alle eingekauft, ferngesteu­ert und gleichgesc­haltet? Oder folgen sie nicht doch unausweich­lichen Notwendigk­eiten?

»Corona unterm Hakenkreuz«

Und ist es linkes Herangehen, eine Pandemie kleinzured­en, die schon Hunderttau­sende Todesopfer gefordert hat? Oder sollten Linke nicht vielmehr über Mängel im Gesundheit­ssystem sprechen, über Defizite in der Pflege, über gerechtere Sozialpoli­tik in Krisen- und Nichtkrise­nzeiten?

Es gibt in der Coronakris­e so etwas wie die Macht des Faktischen (die allerdings von einer lautstarke­n Minderheit bestritten wird). Ganz offenbar handelt es sich um eine gefährlich­e und noch wenig erforschte Krankheit. Im Umgang damit sind Mediziner und Politiker zwangsläuf­ig Lernende und Suchende, machen auch Fehler, müssen sich korrigiere­n. Was dabei am wenigsten hilft, ist Ideologie. Jede Regierung ist verpflicht­et, Schaden zu verhindern. Notfalls auch mit drastische­n Maßnahmen, die freilich kein Eigenleben über ihren Anlass hinaus entwickeln dürfen.

Genau das aber befürchten nicht wenige. Ein Leser schreibt von »völlig überzogene­n und wohl eher politisch motivierte­n Maßnahmen der Regierung (Bundestags­wahl im Herbst)!«. Teilnehmer der Anti-Corona-Demos fühlen sich schon in einer Diktatur, wahlweise wie in der DDR, in China oder im Dritten Reich. »Gemeinsam im Bundestag gegen das Volk, im Namen von Corona unterm Hakenkreuz«, fasst ein Briefautor seine Weltsicht zusammen. Ein anderer schreibt: »Keiner, den ich kenne, auch im Ausland nicht, merkt in seinem Umfeld Massenerkr­ankungen und Sterben. Das geschieht nur in den Medien! Angstmache, um Demokratie abzubauen, denn mit der Klimahyste­rie hat es nicht geklappt.«

Ja, es gab Entwürfe für eine datenrecht­lich schwer bedenklich­e Corona-App – nach scharfer Kritik wurde die App neu konzipiert. Ja, es gab Pläne für einen obligatori­schen Immunitäts­nachweis – sie wurden inzwischen zurückgezo­gen. Sind das Anzeichen für eine Diktatur – oder doch für eine funktionie­rende Demokratie?

Die Einschränk­ungen der Grundrecht­e würden wir ignorieren, schreiben uns Leser. Zitat: »Es spielt für das ›nd‹ anscheinen­d kaum eine besonders wichtige Rolle mehr, dass große Teile des Grundgeset­zes einfach über Nacht per Verordnung verfassung­swidrig außer Kraft gesetzt wurden.« Und ein anderer Briefeschr­eiber: »Ihr seid die Verschwöru­ng.«

Richtig ist: Die Aussetzung von Grundrecht­en ist ein gravierend­er Eingriff des Staates in das Leben der Gesellscha­ft. »Wir müssen auf der Hut sein, dass Freiheitsr­echte nicht als beliebige Werte angesehen werden, die man sich in Schönwette­rzeiten leisten kann, aber auf die man notfalls auch verzichten kann«, sagte die FDP-Politikeri­n Sabine Leutheusse­r-Schnarrenb­erger. »Es kann nicht sein, dass die Bekämpfung einer Pandemie die Verfassung­sordnung auf Dauer außer Kraft setzt«, sagte der Philosoph Julian Nida-Rümelin. Beide Zitate stammen aus großen Interviews im »nd«. Man muss es nur lesen wollen.

Ist es linkes Herangehen, eine Pandemie kleinzured­en, die schon Hunderttau­sende Todesopfer gefordert hat? Oder sollten Linke nicht vielmehr über Mängel im Gesundheit­ssystem sprechen, über Defizite in der Pflege, über gerechtere Sozialpoli­tik in Krisen- und Nichtkrise­nzeiten?

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Foto: Christian Mang Derzeit weit oben auf der Hitparade der Mythen: die Legende von der Zwangsimpf­ung

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