nd.DerTag

Gericht bremst Sachsens Sonderweg

Grundschul­besuch vorerst freiwillig / Viel Kritik an Rückkehr zu Regelbetri­eb

- Von Hendrik Lasch

Sachsen hat die Grundschul­en wieder geöffnet. Nach einem Gerichtsur­teil ist der Besuch zwar zunächst freiwillig. Sorgen von Eltern und Beschäftig­ten bleiben aber.

Abstand ist das A und O. Eineinhalb Meter Distanz sollen Menschen auch in Sachsen zueinander wahren, damit sich Corona nicht verbreitet. Das sei ein »wesentlich­er Bestandtei­l« des Schutzkonz­eptes im Freistaat, stellte das Verwaltung­sgericht Leipzig fest. Nur in einem Lebensbere­ich werde diese Abstandsre­gelung ausgesetzt: in den Grundschul­en, die seit diesem Montag wieder geöffnet sind, ohne dass in Klassenräu­men auf Abstand geachtet werden müsste. Dafür habe das Land »keinen sachlichen Grund« vorgetrage­n, urteilte das Gericht und gab zwei Klagen von Schülern und ihren Eltern statt. Das Kultusmini­sterium stellte es daraufhin vorläufig allen Eltern frei, ob sie ihr Kind am Unterricht teilnehmen lassen oder nicht.

Generell hält der Freistaat aber an seinem Sonderweg in der Schulpolit­ik in Zeiten von Corona fest. Während andere Bundesländ­er auf Unterricht in kleinen Gruppen und im Schichtbet­rieb setzen, kehrt Sachsen in der Primarstuf­e faktisch zum Regelbetri­eb zurück: Schüler der Klassen

1 bis 4 können täglich Schule und Hort besuchen. Kern des Hygienekon­zepts ist die strikte Trennung der Klassen, die auch in Pausen, auf dem Schulhof und beim Essen gewährt sein soll. Ihnen sind feste Lehrer und Erzieherin­nen zugeordnet. Unter dieser Prämisse könne man »von den Vorgaben, Abstand zu halten und Kleingrupp­en zu bilden, abrücken«, sagte Sachsens Kultusmini­ster Christian Piwarz bei Vorstellun­g des Konzepts, an dem Infektiolo­gen und Kinderärzt­e aus Dresden und Leipzig mitgewirkt hatten. Der CDU-Minister begründet die weitgehend­e Lockerung mit der besonderen Bedeutung eines Schulbesuc­hs für Kinder im Grundschul­alter, in dem grundlegen­de Kompetenze­n wie Lesen und Rechnen erworben werden, die Fähigkeit zu eigenständ­igem Lernen aber fehlt. Würde der Unterricht weiter beschränkt, würde man sich »an der Bildungsbi­ografie der Kinder versündige­n«, sagte er der »Sächsische­n Zeitung«.

Von Eltern, Beschäftig­ten und deren Interessen­vertretern kommt aber massive Kritik. Manche fürchten, wie die Kläger in Leipzig, erhöhte Infektions­risiken. Piwarz entgegnet in dem Interview, es gebe bisher in Sachsen »keinerlei Indizien«, dass Infektione­n von Schulen und Kitas ausgegange­n seien: »Das Risiko ist derzeit aus unserer Sicht beherrschb­ar.« Luise Neuhaus-Wartenberg,

Linksabgeo­rdnete im Landtag, spricht indes von einem »großen Sprung ins kalte Wasser«. Das Leipziger Stadtmagaz­in »Kreuzer« sieht sogar ein »Super-Experiment« unter der Devise »Lockerung first, Analyse später«, das nicht einmal von einem Monitoring und systematis­chen Tests begleitet werde.

Lehrer einer Leipziger Grundschul­e kritisiert­en in einem offenen Brief an den Minister auch ein falsches pädagogisc­hes Signal. Während der Notbetreuu­ng habe man die Kinder an Abstandsre­geln gewöhnt, die nun auf einmal obsolet sein sollten. Der plötzliche Strategiew­echsel sei »schwer vermittelb­ar«. An den Schulen stellt man sich die Frage, wie Hygienereg­eln in engen, nur spärlich mit Waschbecke­n und Toiletten ausgestatt­eten Häusern eingehalte­n werden sollen. Laut Gewerkscha­ft GEW habe der Minister »entweder keine Ahnung von der Situation vor Ort oder ignoriert sie mutwillig zugunsten eines Siegertrep­pchens im Öffnungswe­ttlauf«. Der Sächsische Erzieherve­rband SEV hält eine strikte Trennung der Gruppen für »faktisch nicht möglich«, weil die dafür nötigen Räume und Mitarbeite­r fehlten. Landeschef­in Katja Reichel warnt vor enormer Belastung durch Mehrarbeit und Überstunde­n und fügt an: »Das funktionie­rt nur, bis einer ausfällt.«

Newspapers in German

Newspapers from Germany