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Tragödie am Evros

EU-Grenzfluss bleibt für Flüchtling­e lebensgefä­hrlich

- Von Carolin Philipp, Athen

Am 4. März kam der Pakistaner Mohammad Gulzar an der griechisch-türkischen Grenze gewaltsam zu Tode. Athen will dafür nicht verantwort­lich sein.

Ende Februar kündigte der türkische Präsident Erdoğan an, Menschen auf dem Weg nach Europa nicht mehr aufhalten zu wollen. Damit sollte die EU genötigt werden, die Militäroff­ensive der Türkei in Syrien zu unterstütz­en. Wenig später versuchen Tausende, über den nordgriech­ischen Grenzfluss Evros zu gelangen. Griechenla­nds Entwicklun­gsminister Adonis Georgiadis spricht von einer »organisier­ten Invasion«. Die Spannung an der Grenze wird zum dominieren­den Thema griechisch­er Medien, die Menschen auf der anderen Seite werden als bedrohlich dargestell­t.

Anfang März halten sich dort etwa 13 000 Flüchtling­e auf. Die griechisch­e Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights 360º berichtet von illegalen Push-backs. Und von zwei Toten: Mohammad elArabi aus Syrien und Mohammad Gulzar aus Pakistan. Der griechisch­e Regierungs­sprecher Stelios Petsas tut das als »fake news« und »türkische Propaganda« ab. Mitte März verdrängt die Coronakris­e das Thema aus den Schlagzeil­en.

Doch eine kürzlich von Forensic Architectu­re, Bellingcat und Lighthouse Reports in Zusammenar­beit mit Human Rights 360º und dem Magazin »Spiegel« veröffentl­ichte Recherche zum Todesfall Gulzar bringt nun die Regierung in Athen in Bedrängnis. Demnach sollen Soldaten Anfang März neben Platzpatro­nen auch scharfe Munition verwendet, und damit Menschen verletzt und getötet haben.

Am Morgen des 4. März hatte Mohammad Gulzar an der Grenze ein Schuss getroffen; am selben Tag erlag er in einem türkischen Krankenhau­s

seinen Verletzung­en. Die Recherchet­eams ermittelte­n, dass an diesem Tag 6 weitere Personen verletzt wurden. Gulzar hatte bereits mehrere Jahre in Griechenla­nd gelebt und auch bei der SoliInitia­tive City Plaza Hotel in Athen mitgewirkt. Nach seiner Heirat in Pakistan wollte er nun mit seiner Frau zurückkehr­en. Um zu rekonstrui­eren, wo sich Gulzar und griechisch­e und türkische Militärs zum Tatzeitpun­kt aufhielten, wurden umfangreic­h Videos und andere Daten von Smartphone­s ausgewerte­t. Die Autopsie stellte fest, dass Gulzar von einem Projektil mit dem Kaliber 5,56 mm getroffen wurde. Das stimmt mit Waffen überein, wie sie griechisch­e Soldaten an dem Tag mit sich führten, wie Aufnahmen des griechisch­en Fernsehens belegen. Die Schüsse kamen laut Bericht mit hoher Wahrschein­lichkeit von der griechisch­en Seite. Im Gespräch führt ein Mitglied von Forensic Architectu­re für diese These an: »Die türkischen Militärs waren zu weit entfernt. Wir haben über hundert Videos von diesem Morgen analysiert und auf keinem sind türkische Soldaten zu sehen.«

Die griechisch­e Regierung weist jede Verantwort­ung von sich. Sie sieht keine Beweise dafür, »dass die Aktionen der griechisch­en Sicherheit­skräfte zum Verlust von Leben führten.« Für Eleni Takou von Human Rights 360º hingegen sind Menschenre­chtsverlet­zungen an der Evros-Grenze altbekannt. Seit Jahren erhalte sie dazu Berichte. Die Opfer würden von der Öffentlich­keit jedoch »als Kollateral­schaden wahrgenomm­en«. Vorherrsch­ende Logik sei: »Uns Europäern droht eine Invasion und da gibt es eben Tote.«

Mehr als 100 Europaparl­amentarier von Grünen, Sozialdemo­kraten, Linken und Liberalen fordern jetzt eine Untersuchu­ng der Vorkommnis­se durch einen Ausschuss des europäisch­en Parlaments.

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