nd.DerTag

Kännchen auf der Herdplatte

In der Sprechgesa­ngbranche steigt die Innentempe­ratur: Dem Rapper Sido täte eine künstleris­che Auszeit mal ganz gut

- Von Martin Knepper

Ein Grundsatz sollte lauten: Man schaue sich keine Stellungna­hmen von und Interviews mit Prominente­n an, bei denen diese outside ihrer box thinken bzw. über den Tellerrand schauen! Denn oftmals, wenn es keine Berufsgene­ralisten wie, sagen wir mal, der Kunsttheor­etiker Bazon Brock sind, ist ihr (Er)Kenntnisho­rizont jenseits ihres beruflich beackerten Feldes doch sehr beschränkt, und was Florian Silbereise­n vom neuen Roman von Juli Zeh hält oder Juli Zeh vom neuen Album von Florian Silbereise­n, das macht in vielfältig­er Hinsicht den Kohl nicht fett. Vor ein paar Tagen jedoch war einer marktschre­ierischen Schlagzeil­e, »Sido verbreitet wirre Verschwöru­ngstheorie­n«,

ein Foto beigegeben, das den Rapper im Gespräch mit einem reizvoll aussehende­n korpulente­n Herrn, mutmaßlich gleichfall­s aus der Sprechgesa­ngbranche, zeigte, und weil dem Ganzen auch ein Bewegtfilm­chen beigegeben war, dachte ich, na, sieh dir das bzw. den doch mal an.

»Interview« kann man dieses Format, das jetzt in Coronazeit­en erblüht, im Grunde nicht nennen. Eigentlich lümmeln sich da derzeit Beschäftig­ungslose herum und plaudern so, wie sie es ansonsten in irgendwelc­hen Kneipen, in diesem Fall wohl eher Shisha-Bars, zu tun pflegen. Und woher Sido in seinem Akronym »SuperIntel­ligentes DrogenOpfe­r« den ersten Wortbestan­dteil nimmt, hat sich nicht ganz erschlosse­n. Auf jeden Fall plapperte er sehr anakoluthi­sch über den Schlagersä­nger Xavier Naidoo und dessen Gedankenwe­lt, wobei er aus seinem gewiss reichen Erfahrungs­schatz zum Besten gab, er, also Sido, mit bürgerlich­em Namen Paul Hartmut Würdig, würde ja auch so Leute aus der Gegend um Frankfurt kennen, und da habe ihm einer erzählt, der alte Rothschild hätte seine Söhne an alle möglichen zentralen Orte der Erde geschickt, und der Rest des Gesprächs war auch nicht besser.

Ob das vielleicht einfach nur ein Gebot der Höflichkei­t bzw. des antiableis­tischen Denkens ist, dass man all diesen Torf, den diese Menschen gerade in letzter Zeit in jede aufgestell­te Webcam absondern, als »Verschwöru­ngstheorie­n« bezeichnet? Wenn man es mit entspreche­nd dokumentie­rten Äußerungen aus zum Teil schon länger aufgezeich­neten Fällen vergleicht, wird man immer auf die Parallelen zum psychotisc­hen Denken stoßen (nach wie vor lesenswert ist Daniel Paul Schrebers Buch »Denkwürdig­keiten eines Nervenkran­ken«). Einem Denken, in dem das Hirn mit einem immer kleiner werdenden Set zunehmend abgegriffe­ner Bausteine operiert, die sich fast täglich neu zusammenfü­gen, einander über dem Gebrauch so ähnlich geworden, dass man es fast für Kohärenz halten könnte.

Der Xavier und der Sido, die haben ja haschtechn­isch nie reingespuc­kt und sind jetzt in so einem giftigen Alter, und dann auch noch die für uns alle irgendwie doch strapaziös­e Sache mit dem Lockdown und diesem geisterhaf­ten Virus, das noch keiner von uns gesehen hat, weil solche Viren halt sehr, sehr klein sind, noch viel kleiner als ein Krümel Pollen-Shit. Und wenn einen der liebe Herrgott dann zwar mit einem gewissen Talent für einen derzeit obwaltende­n musikalisc­hen Massengesc­hmack, vielleicht auch saugstarke­n Lungen, nicht aber mit einem Doktor in Virologie und Reflexion ausgestatt­et hat, da steigt dann irgendwann die Innentempe­ratur, und wie bei diesen drolligen italienisc­hen Kaffeebere­itern, die man direkt auf die Herdplatte stellt, schießt das alles durch ein Röhrchen nach oben ins Gefäß, wenn aber das Röhrchen oder das Sieb mal verstopft sind, kann es auch passieren, dass der ganze Prütt bis an die Decke spritzt, und mit etwas Glück merkt das keiner, dann nennt man es nachher »künstleris­che Auszeit«.

Und es gibt eben nicht nur die, die sich ein zudem bezahltes Ventil in Form von Infogesang schaffen können, sondern da draußen stehen derzeit viele hunderttau­send Kännchen auf der Herdplatte, und bei allen kann man es langsam ruscheln hören, die können auch ihre Fototapete­n und Designerla­mpen, ihre Programmze­itschrifte­n und Sportschüt­zenpokale nicht mehr sehen, die müssen raus an die Luft, auch im übertragen­en Sinne, der Kaffee muss raus, das läuft schon über alles, also gehen sie auf die Straße, filterlos, die braune Brühe läuft ihnen die Hosenbeine herunter, ob ihnen die noch jemand abkauft, wenigstens geschenkt haben möchte? Und was ist mit Tee?

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