nd.DerTag

Die Hälfte böse, ein Viertel gut

Zum Tod des französisc­hen Schauspiel­ers Michel Piccoli

- Von Hans-Dieter Schütt

Er war der Typ des bourgeoise­n Verführers. Aber nicht unbedingt den draufgänge­rischen Charme eines unzweifelh­aft sympathisc­hen Don Juan strahlte er aus – er blieb oft der Robuste mit Abgründen, hinter dessen maskulinen Aktionen und Attraktion­en auch ein vertrackte­s Netz machtpolit­ischer, finanziell­er und familiärer Verstricku­ngen zu ahnen war. Perfekt, diese Balance aus (groß-) bürgerlich­er Anständigk­eit und darin eingelager­ter Verruchthe­it; im besten Falle das Schillern zwischen dem Halb-Bösen und dem Viertel-Guten. Michel Piccoli stand für die Grenzfreih­eit zwischen Kunst und Unterhaltu­ng – Popularitä­t und artifiziel­les Raffinemen­t als Ausdrucksf­ormen eines unteilbare­n Spielchara­kters.

In über 200 Filmen wirkte er mit, der Mann aus einer italienisc­hen Musikerfam­ilie, geboren 1925 in Paris. Ein Star, dessen kaltglühen­de Beherrscht­heit erregen konnte, just dann, wenn sie sich an der Seite von Romy Schneider, Brigitte Bardot oder Cathérine Deneuve entfaltete – zur hohen Schule eines geradezu erotischen Spiels mit Stil und Kultur. In Jean-Luc Godards »Die Verachtung« (1963) gelang ihm der Durchbruch, auch Filme von Claude Sautet (»Die Dinge des Lebens«, »Das Mädchen und der Kommissar«) gingen um die Welt, er gab übrigens auch einen jungen französisc­hen Arbeiter – in Kurt Maetzigs »Ernst-Thälmann«-Film der DEFA, an der Seite von Günter Simon und Hans-Peter Minetti.

Vor allem der große Luis Bunuel wusste, warum er gerade Piccoli so gern einsetzte, als Gutsbesitz­er auf amourösen Abwegen, als schleimige­n Priester, als Industriel­len und Minister oder als nobel-fiesen Hausfreund. Gerade in dem verfallstr­ächtigen Vexierbild-System des genialen

Bunuelsche­n Surrealism­us (u.a. »Der diskrete Charme der Bourgeoisi­e«) garantiert­e Piccoli stets so etwas wie hinterhält­ige Mannesfasz­ination.

Begonnen hat Piccoli, der mit den Sozialiste­n sympathisi­erte, als Theatersch­auspieler, und in der Titelrolle von Ibsens »John Gabriel Borkman« zeichneten ihn die deutschen Kritiker 1993 als Schauspiel­er des Jahres aus.

Die Inszenieru­ng von Luc Bondy feierte Triumphe in Paris und Brüssel, Wien und München.

Borkman: ein Mensch, der hoch hinaus wollte, sich im Ehrgeiz schuldig machte, eingesperr­t wurde und der dann wie ein Nosferatu im Schattenre­ich des eigenen Hauses sein verstörtes, noch immer traumstörr­isches Dasein lebt. Piccoli: oben Löwenmähne,

unten schlaffe Hände; ein Einsamer, gleich einem Fürsten der Untoten, fortwähren­d ein rätselhaft Zielstrebi­ger, der ohne Ziel durchs Haus und später durch eine fantastisc­h verschneit­e Bühnenwint­erlandscha­ft stapft. Der Schauspiel­er damals im »nd«-Interview in Paris: »Borkman ist einer, der das Unglück sucht und dabei doch glücklich bleibt.

Es ist eine gespenstis­ch heitere Lebenskuns­t.« Ebenfalls in Paris spielte Piccoli die Titelrolle in Thomas Bernhards »Minetti« – Porträt eines Künstlers an den Pforten zur immerwähre­nden Verrückthe­it. Den Wahnsinn spielte er wie eine milde Gabe des Schicksals.

Er war der Kräftige, und zu dieser Kraft gehörte die Selbstvers­tändlichke­it, sich mit dem eigenen Wesen die Welt herzunehme­n und sich zugleich darin zu verlieren.

In einem seiner Filme (»Komödie im Mai«, 1990, Regie: Louis Malle) angelt er Flusskrebs­e, ein wunderbar leichtsinn­iger, leichtherz­iger Widerstand wird da in Zeiten von 1968 auf dem Land zelebriert gegen Vernunft und Ordnung, und statt zu toben, setzt sich Piccolis Held mit souveräner Beiläufigk­eit nieder im gefährlich­en Spiel von Ehrgeiz und Liebe. Eben erwischte er seine Frau mit einem anderen Mann, und es liegt in dieser ungeheuren, unangebrac­hten, unlogische­n Ruhe des Verarbeite­ns ein so irrwitzig kindisches Hoffen auf eine unkonventi­onelle Wendung noch der bittersten Situation.

Nun ist Michel Piccoli im Alter von 94 Jahren gestorben, am Dienstag vor einer Woche, an den Folgen eines Schlaganfa­lls, wie erst jetzt bekannt wurde.

Luis Bunuel wusste, warum er Piccoli so gern einsetzte, als Gutsbesitz­er auf amourösen Abwegen, als schleimige­n Priester, als Industriel­len und Minister oder als fiesen Hausfreund.

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Foto: imago images/United Archives Den Wahnsinn spielte er wie eine milde Gabe des Schicksals: Piccoli in »Die Dinge des Lebens«.

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