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Das Recht des Stärkeren

Der INF-Abrüstungs­vertrag ist Geschichte – folgt jetzt ein Angriff auf den Vertrag zum Stopp der Atomtests?

- Von Otfried Nassauer

Nach langen Verhandlun­gen wurde 1996 der Vertrag über ein vollständi­ges Verbot nuklearer Tests abgeschlos­sen. Bisher haben ihn 168 Staaten ratifizier­t. Nun nimmt die US-Regierung ihn unter Beschuss.

Der 29. Mai 2019 könnte den Anfang vom Ende des Vertrages über ein vollständi­ges Verbot nuklearer Tests (Comprehens­ive Test Ban Treaty – CTBT) markieren. An diesem Tag hielt der Chef des Nachrichte­ndienstes des US-Militärs (DIA), Generalleu­tnant Robert P. Ashley, eine Rede bei einer rüstungsko­ntrollkrit­ischen, konservati­ven Denkfabrik in den USA, dem Hudson Institute.

Nach einer Beschreibu­ng seiner Sicht der russischen Modernisie­rungsbemüh­ungen bei Nuklearwaf­fen führte der General aus: »Die Vereinigte­n Staaten sind der Ansicht, dass Russland das Atomtestmo­ratorium wahrschein­lich nicht in einer Weise einhält, die dem Null-Sprengkraf­t-Standard entspricht. Unser Verständni­s der Entwicklun­g von Atomwaffen lässt uns glauben, dass die Testaktivi­täten Russlands dazu beitragen, die Fähigkeite­n von Atomwaffen zu verbessern. Dagegen haben die Vereinigte­n Staaten auf solche Vorteile verzichtet, indem sie einen Null-Sprengkraf­t-Standard einhielten.«

Auf Nachfragen relativier­te Ashley den Vorwurf ein wenig: Die DIA glaube, dass Russland über die Fähigkeit zu solchen Versuchen verfüge. Mit Blick auf China fügte er hinzu: »In den nächsten zehn Jahren wird China im Kontext des schnellste­n Ausbaus und der Diversifik­ation seines Nuklearwaf­fenbestand­es in der chinesisch­en Geschichte sein Kernwaffen­potenzial wahrschein­lich zumindest verdoppeln.« Das werfe die Frage auf, ob China überhaupt »diese Fortschrit­te ohne Aktivitäte­n realisiere­n könne, die mit dem Teststopp-Vertrag unvereinba­r sind.«

Nach jahrzehnte­langen Debatten und Verhandlun­gen war 1996 der Vertrag über ein vollständi­ges Verbot nuklearer Tests abgeschlos­sen worden. Bisher haben ihn 168 Staaten ratifizier­t, darunter Frankreich, Großbritan­nien und Russland, während die USA und China noch nicht dazu bereit waren. Alle Kernwaffen­staaten außer Nordkorea befolgen derzeit ein Testmorato­rium und verhalten sich so, als sei der CTBT verbindlic­h, unabhängig davon, ob sie ihn ratifizier­t haben oder nicht. In der Trump-Administra­tion gerät der Vertrag nun unter Beschuss gerät.

Ashleys Anschuldig­ungen finden sich drei Monate später auch erstmals im öffentlich­en Teil des jährlichen Berichts des US-Außenminis­teriums über die Einhaltung von Übereinkom­men zur Rüstungsko­ntrolle, Nichtverbr­eitung und Abrüstung. Der indirekte Vorwurf des DIA-Chefs: Russland und China verletzen möglicherw­eise ihre Verpflicht­ungen aus dem Testmorato­rium, und damit letztlich auch den CTBT, um ihre Atomwaffen­arsenale besser modernisie­ren zu können. Beide fühlten sich im Gegensatz zu den USA nicht dazu verpflicht­et, gänzlich auf Versuche zu verzichten, bei denen eine minimale nukleare Sprengkraf­t entsteht. Der genannte Bericht schlussfol­gert lapidar: Die USA werden die Testaktivi­täten Russlands und Chinas weiterhin überwachen.

Obwohl noch nicht in Kraft, bietet der Vertrag bereits heute wichtige Mechanisme­n zur Stärkung des Testverbot­s. In Wien ist eine Vorbereitu­ngskommiss­ion für die CTBT-Organisati­on (CTBTO) tätig, die den Vertrag nach dem Inkrafttre­ten umsetzen soll. Die Vorbereitu­ngskommiss­ion richtet auch ein internatio­nales Überwachun­gssystem ein. Mehr noch, im Zweijahres­rhythmus treffen sich Staaten, die den Vertrag bereits ratifizier­ten oder zumindest unterzeich­neten, zu Konferenze­n zur Förderung des Inkrafttre­tens des CTBT.

Im Hinblick auf die eingangs genannten Anschuldig­ungen seitens der USA erklärte der russische Außenminis­ter Sergej Lawrow auf der jüngsten Konferenz am 25. September 2019, dass Russland seit seinem Nukleartes­tmoratoriu­m 1991 »keine einzige nukleare Explosion« durchgefüh­rt habe. Es beabsichti­ge, das Moratorium fortzuführ­en, »vorausgese­tzt die anderen Nuklearsta­aten folgen der gleichen Linie«. Bemerkensw­erterweise nahmen die USA an der Konferenz im Unterschie­d zu früher nicht teil.

Ashley warf Russland nicht vor, klassische Atomtests wiederaufn­ehmen zu wollen. Sein Vorwurf ist spezieller und trickreich: Russland führe Versuche durch, die nicht dem NullSpreng­kraft-Standard entspräche­n, also Versuche mit einer äußerst niedrigen nuklearen Sprengkraf­t. Solche Explosione­n sind in der Regel mit seismische­n Instrument­en kaum zu entdecken und können von kleinen konvention­ellen Explosione­n auch meist nicht aus der Ferne unterschie­den werden.

Die CTBTO-Vorbereitu­ngskommiss­ion hat bislang keine verdächtig­en Messresult­ate für Russland gemeldet. Sind Ashleys Anschuldig­ungen also falsch? Auch dieser Schluss wäre voreilig, denn er könnte sich auch auf andere Belege stützen, zum Beispiel auf einen Spion oder auf abgefangen­e geheime elektronis­che Nachrichte­n, beides Quellen, die Washington kaum öffentlich preisgeben würde.

Hinzu kommt ein zweites Problem: Es ist fraglich, ob es eine verbindlic­h vereinbart­e Definition des Null-Sprengkraf­t-Standards gibt, oder ob jede Nuklearmac­ht hier ihre eigene Interpreta­tion verwenden kann. Klar ist nur, dass der CTBT keine genaue, technisch unterschei­dende Definition verbotener und erlaubter Explosione­n enthält.

Wenn es, wie immer wieder einmal behauptet wird, eine Verständig­ung auf eine solche Definition gegeben hat, dann müsste diese Eingang in eine zusätzlich­e, geheime Verständig­ung zwischen den fünf Nuklearmäc­hten des Atomwaffen­sperrvertr­ags gefunden haben. Damit könnte die Öffentlich­keit aber kaum überprüfen, ob Russland oder China das Moratorium verletzt haben. Robert Ashley ging bei seinem Vortrag offenbar nicht davon aus, dass es eine solche Übereinkun­ft gebe. Er unterstell­te Moskau und Peking lediglich, sich wohl nicht an die US-Interpreta­tion gebunden zu fühlen.

Die unsichere Faktenlage könnte zu einem wohlbekann­ten Phänomen führen: Die USA erheben eine Anschuldig­ung und fordern von Moskau Beweise, dass die Anschuldig­ung unzutreffe­nd ist oder es das behauptete Ereignis nicht gab. Zu beweisen, dass es etwas nicht gibt oder gab, widerspric­ht den Gesetzen der Logik, ist aber in der Welt politisch motivierte­r Unterstell­ungen eine gern genutzte Argumentat­ionsfigur. Fortan wird dann vorrangig über die Glaubwürdi­gkeit der russischen Dementis diskutiert und nicht mehr über den Wahrheitsg­ehalt der Anschuldig­ung aus Washington.

Der Vorwurf gewinnt dagegen dank permanente­r Wiederholu­ng und gelegentli­ch veröffentl­ichter, zusätzlich­er Einzelheit­en scheinbar an Glaubwürdi­gkeit. Zuletzt war dies zu beobachten, als die USA Moskau eine Verletzung des INF-Vertrags vorwarfen. Dieser wurde letztlich von den USA aufgekündi­gt.

Eine andere Beobachtun­g könnte in die gleiche Richtung weisen. In der grundlegen­den Darstellun­g ihrer künftigen Nuklearpol­itik, dem Nuclear Posture Review, äußerte sich die Trump-Administra­tion 2018 auch zu ihrer künftigen Politik in Sachen CTBT. Sie werde an ihrem Moratorium für nukleare Testexplos­ionen festhalten, jedoch keine Ratifizier­ung des Vertrages anstreben und sich die Möglichkei­t einer Wiederaufn­ahme nuklearer Tests vorbehalte­n.

An technische­n Vorbereitu­ngsarbeite­n für Elemente des internatio­nalen Kontrollsy­stems würden die USA weiter teilnehmen (Internatio­nal Monitoring System und Internatio­nal Data Center); das Instrument der Vor-Ort-Inspektion wird jedoch nicht mehr explizit erwähnt. Im Falle des Inkrafttre­tens des CTBT wäre genau dieses Element besonders gut geeignet, um dem Verdacht einer Verletzung des Null-Sprengkraf­t-Standards oder verdeckter Vertragsve­rletzungen wirksam nachzugehe­n.

Hier könnte sich auch ein Hinweis auf die Motivlage für Ashleys Anschuldig­ung verstecken. Mittelfris­tig können seine Vorwürfe als Begründung dafür dienen, dass Washington das Testmorato­rium aufkündigt, seine Unterschri­ft unter den CTBT zurückzieh­t und damit den Weg freimacht, um selbst wieder Atomwaffen testen zu können. Befürworte­r eines solchen Schritts gibt es in der TrumpAdmin­istration und bei den Republikan­ern, die eine Ratifizier­ung des CTBT seit jeher ablehnen, sicher in ausreichen­der Zahl.

Die derzeitige US-Regierung plant selbst die Entwicklun­g und den Bau neuer atomarer Sprengköpf­e und will sich nicht dauerhaft auf modernisie­rte, leistungsg­esteigerte Sprengköpf­e aus Zeiten des Kalten Krieges beschränkt wissen. Der im Februar 2020 vorgelegte US-Haushaltse­ntwurf für 2021 enthält erstmals Gelder für die Konzeption eines neuen Kernspreng­kopfes für U-Boot-gestützte Langstreck­enraketen,

der offenbar durch das zuständige interminis­terielle Nuclear Weapons Council bereits gebilligt wurde. Dessen Bezeichnun­g als W93 signalisie­rt zudem, dass es sich nicht mehr um eine modernisie­rte Waffe, sondern zum ersten Mal nach dem Ende des Kalten Krieges um einen neu zu entwickeln­den Sprengkopf handeln könnte.

Mit der Entwicklun­g neuer Sprengköpf­e eng verkoppelt war und ist in den USA aber auch die intensive Debatte darüber, ob und wie die Zuverlässi­gkeit und Funktionsf­ähigkeit neuer Waffen vor der Indienstst­ellung ausreichen­d getestet werden können, wenn der Null-Sprengkraf­tStandard und die Vorgaben des CTBT zugrunde gelegt werden. So mancher hält es für unumgängli­ch, dass zu diesem Zweck wieder getestet werden müsste.

Dass diese Lesart zutreffen könnte, verdeutlic­ht auch ein Artikel von Mark Schneider. Der pensionier­te, ehemals hohe Pentagon-Bedienstet­e arbeitet heute für das National Institute for Public Policy. Er entwickelt­e den Vorwurf, Russland verletze den INF-Vertrag, um die Republikan­er bereits in Obamas Amtszeit gegen diesen Vertrag in Stellung zu bringen und nahm Ashleys Ausführung­en beim Hudson-Institut zum Anlass, um in einem Aufsatz den CTBT angesichts vermuteter russischer Verletzung­en des Null-Sprengkraf­t-Standards infrage zu stellen.

Sein Argument: Während Russland eine wissenscha­ftlich fundierte Entwicklun­g neuer und verbessert­er Kernwaffen verfolge, hätten demokratis­che US-Präsidente­n wissenscha­ftlichen Rat kontinuier­lich ignoriert und verkannt, dass der NullSpreng­kraft-Standard verhindere, die eigenen Nuklearwaf­fen sicher, modern und effektiv zu halten.

Ashleys Vorwürfe und Schneiders Argumentat­ion passen gut zu den Positionen Donald Trumps und seines ehemaligen Sicherheit­sberaters John Bolton. Rüstungsko­ntrolle beschränkt die Freiheit der USA, vom Recht des Stärkeren Gebrauch zu machen. Auf diesem Denkansatz beruhen die Aufkündigu­ng des INF-Vertrages, des Atomabkomm­ens mit dem Iran und auch Trumps neue Landminenp­olitik. Es kann also nicht verwundern, dass auch der CTBT, Obamas neuer START-Vertrag oder die US-Unterschri­ft unter den weltweiten Waffenhand­elsvertrag in dieser Administra­tion verstärkt unter Beschuss geraten.

Die USA erheben eine Anschuldig­ung und fordern von Moskau Beweise, dass die Anschuldig­ung unzutreffe­nd ist oder es das behauptete Ereignis nicht gab.

 ?? Foto: dpa ?? Französisc­her Atomwaffen­test 1971 auf dem Mururoa-Atoll im Südpazifik. Inzwischen finden solche Versuche vor allem unterirdis­ch statt.
Foto: dpa Französisc­her Atomwaffen­test 1971 auf dem Mururoa-Atoll im Südpazifik. Inzwischen finden solche Versuche vor allem unterirdis­ch statt.

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