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Sichtbar wird Erinnerung erst im Alltag

- Von Claudia Krieg

Die Wege jüdischer Menschen zu den NS-Vernichtun­gstranspor­ten führten durch dichtbewoh­nte Viertel, vor allem in Mitte. Hierher gehört auch die Erinnerung an sie, findet der Bezirk. »In dem Moment, wo ein Denkmal fertig ist, veraltet es«, stellt Thomas Lutz, Leiter der Topographi­e des Terrors, fest. Eine oft jahrelang geführte, lebhafte Debatte ende dann. Man könnte auch sagen, die Erinnerung wird statisch.

Ob und – wenn ja – wie das verhindert werden könnte, diskutiert­e Lutz vor einigen Tagen in einer Runde des Regionalmu­seums Mitte. Dabei waren auch Bezirkssta­dträtin Sabine Weißler (Grüne), die Vorsitzend­e des Kulturauss­chusses der Bezirksver­ordnetenve­rsammlung Mitte, Vera Morgenster­n (SPD), der Historiker Thomas Irmer und Andreas Szagun von der Bürgerinit­iative »Ihr letzter Weg«. Sie alle sind der Meinung, dass die Erinnerung an die von den Nazis ermordeten Berliner Juden und Jüdinnen auch nach über 75 Jahren angesichts der Monstrosit­ät des Verbrechen­s noch immer keine angemessen­e Form gefunden hat.

Aus diesem Grund soll es noch in diesem Jahr ein neues Konzept geben, wie man das Vernichtun­gsnetzwerk der Nationalso­zialisten im Berliner Stadtraum zukünftig wahrnehmba­r machen kann, »für jedermann und jederfrau erkennbar erzählt«, wie Sabine Weißler sagt. Das Gebiet des heutigen Bezirks Mitte hat darin eine besondere Rolle gespielt. Von 15 in Berlin eingericht­eten Sammellage­rn befanden sich hier allein zwölf: Die Synagoge in der Levetzowst­raße, das jüdische Altenheim und die jüdische Schule in der Großen Hamburger Straße und die jüdische Sozialverw­altung in der Rosenstraß­e sind die bekanntere­n Orte jüdischer Hilfe und Pflege, die von den nationalso­zialistisc­hen Tätern in Orte der Verfolgung und Vernichtun­g umfunktion­iert wurden. Von ihnen aus zwangen sie zwischen 1941 und 1945 viele der mehr als 50 000 Berliner Jüdinnen und Juden auf über 184 Transporte­n in ihre akribisch geplante Ermordung – in die Ghettos und Mordstätte­n in Osteuropa, die Vernichtun­gslager von Auschwitz-Birkenau

und Sobibór. Diese Vernichtun­g sei zwar »im historisch­en Wissen versenkt, aber nicht sichtbar«, so Weißler. Das mag auch daran liegen, dass es nur wenige bis gar keine Fotos davon gibt. Man hoffe, mit einem aktuellen Aufruf solche Dokumente zu erhalten.

Belegt ist dennoch, dass die letzten Wege der jüdischen Menschen durch dichtbewoh­nte Viertel zu den Deportatio­nsbahnhöfe­n Moabit, Grunewald und zum Anhalter Bahnhof führten. »Das waren keine Nacht- und Nebelaktio­nen, das geschah in der Regel am helllichte­n Tag zur Arbeitszei­t«, sagt Thomas Irmer.

Die Alltäglich­keit der Vernichtun­g in eine alltäglich erfahrbare Erinnerung zu übersetzen, sei eine gestalteri­sche Herausford­erung, erklärt Weißler. Sie hofft, dass viele Konzepte eingesandt werden.

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Foto: dpa/Daniel Karmann Mahnmal auf der Putlitzbrü­cke

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