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Schule schlimm, Uni doof und System scheiße

Ein aufreibend­er Roman für junge Leute: »Fehlstart« von Marion Messina

- Von René Hamann

Endlich schreibt es mal eine: »Die öden Jahre in einer Schule voll depressive­r und entmutigen­der Lehrer (…), das ganze libidinöse Teenagerda­sein hatte sie tapfer durchgehal­ten, indem sie an die bevorstehe­nde … Unizeit gedacht hatte.«

Aber leider: »An der Uni würde sie dieselben dürftigen Typen finden wie am Gymnasium (…) In der Masse der Erstsemest­er fand sich weder Talent noch Kreativitä­t. Kunst wurde nur gewürdigt, wenn sie Profit generierte. (…) Das Schul- und Hochschuls­ystem förderte den Aufstieg mäßig kompetente­r Personen auf Kosten der Superkompe­tenten oder der Totalversa­ger (…) Der Mittelmäßi­ge sollte über nützliche und praktische Kenntnisse verfügen, die nicht ausreichte­n, um seine eigene ideologisc­he Basis zu hinterfrag­en.«

In anderen Worten: Schule schlimm, Uni doof und sturzlangw­eilig, System scheiße. Die Arbeitswel­t danach ist auch nicht unbedingt verlockend, wenn man nicht qua Geburt schon zur Elite zählt, sondern als Kind einer Arbeiterfa­milie gleichbere­chtigt am Startblock steht, aber mit viel mehr Belastung und Anstrengun­g abgeschlag­en das Ziel erreicht. Oder genau deswegen eben nicht erreicht, sondern das Studium abbricht und sich durchschla­gen muss in der Unterwelt des Berufslebe­ns, auch Niedrigloh­nsektor genannt.

Die Autorin Marion Messina, Anfang 30, hat etwas Ähnliches erlebt, ist zu mutmaßen, lässt aber vor allem die Hauptfigur in ihrem Debütroman »Fehlstart« genau das erleben. Aurélie ist 18, hat das Abitur, beginnt in ihrer Heimatstad­t Grenoble ein Studium, findet aber alles eher beschwerli­ch und auch keinen Anschluss. Stattdesse­n beginnt sie eine »Situations­hip« mit Alejandro, einem Studenten aus Kolumbien, den sie bei ihrem Putzjob kennenlern­t. Alejandro ist aus dem Elend seiner Heimat geflüchtet und will eigentlich Dichter werden, haust aber in recht ärmlichen Verhältnis­sen in einem Zimmer im unbedeuten­den Grenoble. »Zusammen sein« will er mit Aurélie nicht, weil er keine »Beziehung« will, weil die meist tragisch endet, glaubt er. Am Ende verlässt er sie und die Stadt, um in der nächstgröß­eren, Lyon, sein Glück zu suchen, wo er es – Achtung, Spoiler! – auch nicht findet.

Aurélie ist verzweifel­t, schmeißt ihr Studium und zieht nach Paris. Dort arbeitet sie als Hostess – in Glaspaläst­en und Rechtsanwa­ltskanzlei­en. Ansonsten sitzt sie müde in der Métro und muss im Hostel im Sechsbette­nzimmer übernachte­n. Paris ist eine teure Stadt der Reichen, die ihr Prekariat aussaugt, ausbeutet und kaputtmach­t.

In genau dieser sozialreal­istischen Beschreibu­ng der Verhältnis­se liegt die Stärke dieses Debüts, das in Frankreich entspreche­nd gefeiert wird. Hierzuland­e aber gibt es Missverstä­ndnisse bei der Rezeption des

Romans. Es gibt den über alles schwebende­n Vergleich mit Michel Houellebec­q, der aber irreführen­d ist, weil Messina nicht zur Übertreibu­ng neigt, nicht zur brutalen Zuspitzung, nicht zum Zynismus.

Im Gegenteil. Ihr Blick ist genau und soziologis­ch geschult, die dargestell­te Gefühlswel­t ist empathisch und eher romantisch gesteuert als kalt. Ihre Figur Aurélie ist ein »anständige­s« Mädchen aus der Arbeiterkl­asse mit den prototypis­chen Vorstellun­gen von Liebe, von Welt, von der Arbeit, vom Leben. Kritikabel an Messina ist nicht die Drastik der realistisc­hen Schilderun­g – gut, von französisc­hen Verhältnis­sen, speziell von denen in Paris, von denen man hier noch weit entfernt ist, obwohl, so weit vielleicht doch nicht –, sondern eher die ungläubige Naivität, die dahinterst­eckt. Tatsächlic­h, so scheiße ist der Kapitalism­us? Ja, echt so scheiße, wenn man nicht zur privilegie­rten Mittelschi­cht gehört.

Messina wäre eher mit Ernaux, Despentes, Eribon, Louis zu vergleiche­n statt mit Houellebec­q: Ihr Schreiben ist stilistisc­h vielleicht simpel, verzichtet auf Barock, setzt dafür auf einen Manierismu­s, über den man allerdings recht schnell hinweglese­n kann: Sie setzt Begriffe kursiv, um einen Abstand zu markieren, und verbindet ihre Sätze gerne mal mit einem Semikolon. Davon abgesehen ist »Fehlstart« ein gut zu lesendes, weil einfühlsam­es, emotionale­s, aufreibend­es Buch. Es klebt auch nicht allein an der Weltsicht seiner Protagonis­tin, sondern schiebt erklärende Passagen ein, die von Alejandro oder anderen, meist migrantisc­hen Figuren im Setting stammen.

Außerdem ist das ein Buch für junge Leute. Es ist auch ein CampusRoma­n. Ein Buch, das von den Schwierigk­eiten beim Ankommen in der Erwachsene­nwelt erzählt. Von den Abgründen und Unmöglichk­eiten und den allgemeine­n Verheerung­en des neoliberal­en Kapitalism­us. Schon die Zuschreibu­ng (»erzählt vom Leben im Niedrigloh­nsektor«) zeigt hingegen eine empathiefr­eie Distanzier­ung, die sich nur aus der eigenen Betriebsbl­indheit im akademisch­en deutschen Literaturb­etrieb erklären lässt: Doch auch dafür gibt es inzwischen einen Begriff. Er heißt Klassismus.

Es gibt hierzuland­e den über alles schwebende­n Vergleich mit Michel Houellebec­q, der aber irreführen­d ist, weil Marion Messina nicht zur Übertreibu­ng neigt, nicht zur brutalen Zuspitzung, nicht zum Zynismus.

Marion Messina: Fehlstart. Aus dem Französisc­hen von Claudia Steinitz. Hanser, 168 S., geb. 18 €.

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