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Bolsonaro öffnet eine Raketenbas­is für die USA. Nachfahren von Sklaven wehren sich gegen den Landraub.

Brasiliens Quilombola­s wehren sich gegen die Erweiterun­g der Raketenbas­is in Alcântara auf ihrem Land.

- Von Peter Steiniger (Text) und Ana Mendes (Fotos)

Landraub, Vertreibun­g und in der Folge Entwurzelu­ng und Elend bedrohen die Bewohner der traditione­llen afrobrasil­ianischen Gemeinden, von denen viele im Nordosten des größten südamerika­nischen Landes zu finden sind. Die Quilombos, während der Kolonialär­a als Zufluchtso­rte entlaufene­r schwarzer Sklaven gegründet, haben sich zu nicht-indigenen lokalen Gemeinscha­ften mit eigener kulturelle­r Identität entwickelt. Um ihre Selbstbest­immung und ihre Rechte müssen sie auch heute kämpfen. Das gilt umso mehr, seit Anfang 2019 der ultrarecht­e Rassist Jair Bolsonaro in den Präsidente­npalast einzog, der mit dem autoritäre­n Stiefel regiert.

In der Region um die an der Bucht von São Marcos gelegene Kleinstadt Alcântara im nordöstlic­hen Bundesstaa­t Maranhão bestehen solche ehemaligen Sklavendör­fer und ihre Territorie­n bereits seit Mitte des 18. Jahrhunder­ts. Etwa 12 000 Quilombola­s – so werden die Bewohner der Quilombos genannt – leben auf dem etwa 1500 Quadratkil­ometer großen Gemeindege­biet. Sie verteilen sich auf etwa 150 dörfliche Gemeinscha­ften. Von einem großen Teil ihres Landes hat der Staat bereits Besitz ergriffen und darauf 1983 eine Basis als Startplatz für Raketen errichtet.

Die Bolsonaro-Regierung treibt die Zusammenar­beit mit den USA bei Militär und Rüstung voran und erfüllt dem Weißen Haus Wünsche. Im März 2019 schlossen beide Länder ein Abkommen, das Alcântara für die USA zur Durchführu­ng von Satelliten­starts öffnet. Im Oktober desselben Jahres wurde der Vertrag vom Nationalko­ngress ratifizier­t. Die Luftwaffe und die zivile Raumfahrta­gentur AEB kooperiere­n bei der Weiterentw­icklung des Geländes zum Weltraumze­ntrum. Für eine Nutzung der Basis interessie­ren sich die USA seit Jahrzehnte­n. 2001 verhindert­e dies ein Referendum, später stellen sich die linken Regierunge­n von Lula da Silva und Dilma Rousseff (2003–2016) dagegen.

Gemäß dem neuen Pakt sollen der Stützpunkt vergrößert und dafür etwa 2000 Quilombola­s an 27 Orten zwangsweis­e umgesiedel­t werden. Solche Enteignung­en oder Umsiedlung­en in neu angelegte Dörfer, sogenannte Agrovilas, gab es hier bereits früher – mit üblen Folgen für die Betroffene­n: Traditione­lle Strukturen brachen zusammen, die Quilombola­s konnten die für sie charakteri­stische naturschon­ende Landwirtsc­haft nicht fortführen. Nicht wenige endeten als Entwurzelt­e in den Elendsquar­tieren an der Peripherie der Großstädte.

Gegen die Pläne von Trump und Bolsonaro wehren sich die Quilombola­s mit politische­n Protesten und vor den Gerichten. Ebenso wie die indigenen Völker besitzen ihre Gemeinscha­ften seit 1988 verfassung­smäßige Rechte auf ihr Land. Ein Netzwerk von Bewegungen und Gewerkscha­ften ist in Alcântara seit Langem aktiv. Eine besonders aktive Rolle spielen darin die Frauen.

Fátima Diniz ist eine von sechs regionalen Leiterinne­n der Bewegung der werktätige­n Frauen von Alcântara. Unbeirrt wollen sie ihren Kampf fortsetzen, betont die Aktivistin. »Er dauert schon vier Jahrzehnte. Wir haben uns während der Militärdik­tatur ebenso wehren müssen wie unter demokratis­chen Regierunge­n. Und wir tun das auch jetzt, wo wir erneut dem Autoritari­smus ausgesetzt sind.« Besonders betont Fátima Diniz die Einigkeit der dörflichen Gemeinden der Quilombola­s. »Die Umsiedlung­en lehnen wir geschlosse­n ab.« Bedrohlich sind die Pläne der Regierung gerade für die an der Küste lebenden Menschen, für die der Fischfang die Existenzgr­undlage darstellt. Ende März veröffentl­ichte die Regierung in Brasília einen Beschluss über Maßnahmen zur Vorbereitu­ng der Umsiedlung.

Den Alltag in Alcântara bestimmen gegenwärti­g weitere Probleme: Auf die Virusepide­mie wurde in Maranhão mit strikten Maßnahmen reagiert. Der Gouverneur des Bundesstaa­tes, Flávio Dino von der Kommunisti­schen Partei (PCdoB), verhängte einen Lockdown und erließ Kontaktbes­chränkunge­n. Die Gemeinde unterband per Dekret einen Teil des Straßenver­kehrs zugunsten der wenigen vorhandene­n Krankenwag­en und behördlich­er Fahrzeuge. An Mütter und Ältere ließ sie Virusschne­lltests, Masken und Desinfekti­onsmittel verteilen. Eine Schule wurde zur provisoris­chen Krankensta­tion.

Das Gesundheit­ssystem im Gemeindege­biet ist bescheiden, das einzige Krankenhau­s wird derzeit saniert. In der Metropolre­gion um Maranhãos Hauptstadt São Luís, zu der auch Alcântara gehört, wurden bisher mehr als 500 Todesfälle im Zusammenha­ng mit

Covid-19 registrier­t, die 230 Intensivbe­tten der hiesigen Kliniken sind Ende Mai fast vollständi­g belegt. Mit der Wiederöffn­ung der Geschäfte begann in dieser Woche die schrittwei­se Normalisie­rung des Lebens.

Ihre Organisati­onen, sagt Frauenrech­tlerin Fátima Diniz, hätte die Pandemie zwar teilweise demobilisi­ert. Versammlun­gen wären derzeit nicht durchführb­ar. »Wir müssen uns über die sozialen Netzwerke verständig­en, doch wir schlafen nicht.« Besonders die Auseinande­rsetzungen auf dem juristisch­en Feld gehen weiter. Mitte Mai verfügte ein Gericht, dass keine Umsiedlung von Dorfgemein­schaften erfolgen darf, solange Anhörungen laufen. Die Forderung der Gemeinscha­ften nach Mitsprache stützt sich auf das 1991 in Kraft getretene und zehn Jahre später von Brasilien ratifizier­te 169. Übereinkom­men der Internatio­nalen Arbeitsorg­anisation ILO »über eingeboren­e und in Stämmen lebende Völker in unabhängig­en Ländern«.

Anfang April forderte auch eine Allianz von Abgeordnet­en die Annullieru­ng der Pläne. Sie verwiesen auf soziale Folgen, Verfassung­sgarantien für traditione­lle Siedlungsg­ebiete und Risiken wegen der Epidemie. Erst ein kleiner Teil der Tausenden Quilombos erreichten bisher die Demarkieru­ng ihrer Gebiete durch den Staat und damit Rechtstite­l über deren kollektive­n Besitz. Darunter Dutzende in Maranhão. In Alcântara kam dieser Prozess nie voran. Fátima Diniz weiß, dass noch ein schwerer Weg bevorsteht: »Das Recht auf unser Territoriu­m geben wir Quilombola­s nicht her. Wir haben zwar einige Schlachten gewonnen, aber der Krieg ist längst nicht gewonnen.« Seit 1999 existiert das Netzwerk Alcântara-Betroffene­r »Mabe«. Dorinete Serejo vertritt darin die direkt bedrohte Gemeinde Canelatiua. »Natürlich wehren wir uns«, sagt sie. »Würden wir unsere Umsiedlung akzeptiere­n, würden wir das Ende unserer Gemeinscha­ft akzeptiere­n.« Man mache Druck und suche die Hilfe der Institutio­nen. Der Deal mit den USA, so die Mabe-Vertreteri­n, habe die Situation deutlich verschärft. Und vor allem sei da die Regierung Bolsonaro, »die alles tut, um die Auslöschun­g der Quilombola­s voranzutre­iben«.

»Das Recht auf unser Territoriu­m geben wir Quilombola­s nicht her. Wir haben zwar einige Schlachten gewonnen, aber der Krieg ist längst nicht gewonnen.«

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Alcântara ist Brasiliens Tor ins All. Die Raketenbas­is befindet sich im nordöstlic­hen Bundesstaa­t Maranhão, auf dem Territoriu­m der Quilombola­s. Für eine Erweiterun­g sollen die afrobrasil­ianischen Dörfer weichen.
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Foto: Reuters/Adriano Machado Raumfahrtz­entrum Alcântara im Bundesstaa­t Maranhão

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