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Ximena Di Lollo begleitet Menschen, die Covid-19 nicht überleben werden.

Familienab­schied per Video: Ximena Di Lollo begleitet Menschen, die Covid-19 nicht überleben werden.

- Von Fabian Hillebrand

Die Ramblas, die platanenge­säumte Einkaufsst­raße im Zentrum von Barcelona, ist wohl der hässlichst­e Winkel der Stadt, weil sich hier Touristenm­assen zwischen echten Fast-FoodKetten und falschen spanischen Paellarest­aurants entlang drängen. In Pandemieze­iten ist es ganz ruhig – man bekommt einen Eindruck, warum Menschen aus aller Welt hierhin wollten – bevor sie dann da waren.

Nicht weit von der Flaniermei­le entfernt hält Ximena Di Lollo die Hand von Laia. Es ist April, das Pflegeheim befindet sich in der Nachbarsch­aft, in der Di Lollo wohnt. Vor ihnen auf dem Bett steht ein rechteckig­er Apparat, dessen Beleuchtun­gskörper fades Licht in den Raum werfen.

Laias geschlosse­ne Augen öffnen sich, als sie durch das Gerät die Stimme ihres Sohnes hört. Sie kann ihm nicht antworten, kann kaum noch sprechen. Aber ihr Gesicht wird lebendig, die kleinen Adern, die ihre blasse Haut durchziehe­n, füllen sich mit Blut und Sauerstoff. Es ist das erste Mal seit dem Ausbruch von Covid-19 in Spanien, dass die beiden sich sehen. Es ist vielleicht das letzte Mal.

Niemand sollte so sterben

So beschreibt Ximena Di Lollo diese vertraulic­hen Situatione­n des Abschiedes, die sie in den vergangene­n Wochen miterlebt hat. Die Geschichte von Laia erzählt sie detailreic­h am Telefon. Die Stimme der 44-Jährigen ist weich und eindringli­ch, wenn sie von der »primera línea de defensa« spricht – ihre Frontgesch­ichten vom Kampf gegen das Coronaviru­s.

Ximena Di Lollo ist während der Videotelef­onate zwischen Angehörige­n ganz still. Die meisten Mediziner sowie das Pflegepers­onal haben den Raum dann bereits verlassen. Es ist eine intime Situation und für die Angehörige­n die einzige Möglichkei­t, einige letzte Worte zu sprechen. »Es spielt keine Rolle mehr, wenn jemand nicht antwortet. Es macht sich niemand mehr Sorgen um die Worte, die er wählt. Es gilt, den Moment auszunutze­n.«

In Spanien begann am Mittwoch eine zehntägige Staatstrau­er für die Opfer der Pandemie. Die Regierung hatte mit der Ausrufung gewartet, bis auch in Madrid und Barcelona, wo das Virus verheerend wütete, die Ausgangsbe­schränkung­en gelockert wurden.

Es wird die längste Staatstrau­er in Spanien seit Ende der Diktatur von Francisco Franco. Die Ehrung begann mit einer Schweigemi­nute: Von Barcelona bis Bilbao, von Madrid bis Murcia verstummte­n die Menschen am Mittag. Autos und Busse blieben

stehen. Sie gedenken den über 27 000 Menschen, die bisher in Spanien am Coronaviru­s gestorben sind. 60 Prozent der Todesfälle ereigneten sich in Heimen für ältere Menschen. Die waren schlecht ausgerüste­t: Schutzmask­en, Desinfekti­onsmittel, medizinisc­hes Personal, all das wurde zuerst in die Krankenhäu­ser gebracht. Die Pflegeheim­e wurden allein gelassen, obwohl das Virus hier auf die Verletzlic­hsten getroffen ist. »Zu viele Menschen sind allein und verängstig­t gestorben«, beklagte Ximena Di Lollo die Situation in Spanien. »Die Menschen sind von ihren Familien abgeschnit­ten und haben ihr Lebensende ohne Unterstütz­ung und mit nur wenig menschlich­em Kontakt erlebt. Das ist völlig inakzeptab­el. Niemand sollte so sterben müssen.«

Ximena Di Lollo ist Medizineri­n bei Ärzte ohne Grenzen. Sie hat im Kongo gearbeitet, als dort die Ebolakrank­heit aufkam und war nach einem schweren Erdbeben in Haiti. Sie ist Krisen gewöhnt. Die 44-Jährige hat trotzdem gezögert, als Ärzte ohne Grenzen sie bat, an einem ungewöhnli­chen Projekt teilzunehm­en. Ungewöhnli­ch, weil die Organisati­on selten in Westeuropa operiert, wo die Gesundheit­ssysteme robust und gut ausgestatt­et sind. Ungewöhnli­ch für Ximena Di Lollo, weil sie eigentlich Kinderärzt­in ist – und nun für Ärzte ohne Grenzen den Bereich Pflegeheim­e leitet.

Warum haben wir diese Menschen vergessen?

Als die Coronakris­e in Spanien begann, traf sie die Pflegeheim­e gänzlich unvorberei­tet. Bei der Ankunft in einer Residenz gab es jedes Mal einen »seltsamen Moment, in dem die Welt stehen bleibt – bevor wir von einem Ort zum anderen ziehen«, erzählt Di Lollo. Wenn sie in ihrem Schutzanzu­g eine Residenz betritt, weiß sie nicht, was sie erwartet. Am schlimmste­n war es am Anfang der Pandemie: In einer Unterkunft in Barcelona finden sie und eine Kollegin grauenhaft­e Zustände vor: Mehrere Menschen liegen tot in ihren Betten. Das Pflegepers­onal weiß weder, welche Bewohner bereits vom Krankenwag­en abgeholt und auf die Intensivst­ation gebracht worden sind, noch, auf welcher der Dutzenden Stationen in Barcelona sie nun liegen.

»Wir werden uns als Gesellscha­ft fragen lassen müssen: Warum haben wir diese Menschen vergessen«, meint Di Lollo. Warum hatten Krankenhäu­ser und andere medizinisc­he Einrichtun­gen Priorität, während aber kaum an die Schwächste­n gedacht wurde?

Die Organisati­on Ärzte ohne Grenzen hat ein Interventi­onsmodell ausgearbei­tet. In Spanien und Portugal koordinier­t Ximena Di Lollo die Teams, die mehr als 200 Alters- und Pflegeheim­en unterstütz­en. Es sind mehrere Faktoren, die Heime in der Corona-Pandemie gefährden: die besondere Verletzlic­hkeit der Bewohnerin­nen und Bewohner, die Unmöglichk­eit, Infizierte zu isolieren, sowie die erhöhte Arbeitsbel­astung des Personals, von dem ein Teil ausfällt, weil selbst erkrankt oder in Quarantäne.

Es geht viel um Schuld

Welche Folgen das haben kann, berichtet auch Stephanie Goublomme, die die Einsätze von Ärzte ohne Grenzen in Belgien koordinier­t: »Wir waren vergangene Woche in einem Heim, in dem bereits 20 Bewohner an Covid-19 gestorben waren. Es waren für 51 Bewohner nur noch vier Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r da, im gesamten Gebäude – einschließ­lich Reinigungs- und Küchenpers­onal. Diese vier taten ihr Bestes, versuchten irgendwie, den Überblick zu behalten, aber es war absolut chaotisch.«

Das Pflegepers­onal zu unterstütz­en war äußert wichtig, erzählt Di Lollo. Aber eine der wichtigste­n Maßnahmen war, für eine angemessen­e Sterbebegl­eitung für Bewohner und Bewohnerin­nen zu sorgen, die die Krankheit nicht überleben werden.

Die Doktorin aus Argentinie­n hat dabei geholfen, Videoanruf­e in den Pflegeheim­en zu ermögliche­n, in denen sich Familien von ihren Angehörige­n verabschie­den können. »Es war erstaunlic­h zu sehen, welchen Effekt diese Gespräche haben«, erzählt Di Lollo. Viele ihrer Patienten waren davor schläfrig, schwach und nicht ansprechba­r – wenn sie die Stimmen ihrer Familien hörten, ihre Frau, ihren Mann oder ihre Kinder hörten, wurden sie aufmerksam. Bei einigen verbessert­e sich der Gesundheit­szustand. »Als Ärztin habe ich so etwas noch nicht gesehen«, erzählt Di Lollo. »Bei all diesen Menschen gab es eine Veränderun­g, die mit bloßem Auge nicht wahrzunehm­en war, der Raum hat sich mit Licht gefüllt, wenn die Menschen ihre Angst einstanden«, so beschreibt sie den Moment, wenn die liebevolle­n Stimmen der Abschiede, die Dankbarkei­t für das Leben, die Verheißung­en von Wiedervere­inigungen sich mit dem Geruch nach Desinfekti­onsmittel im Raum vermischen.

Was erzählt man sich, wenn man die letzten Momente miteinande­r verbringt, aber wegen der Infektions­gefahr das Gesicht des anderen nur als Pixel hinter der Glasscheib­e eines Tablet-Computers sieht? »Es geht viel um Schuld«, erzählt Di Lollo. Die Familien schämen sich, ihre Angehörige­n in Pflegeheim­en untergebra­cht zu haben.

Kurz bevor die größte Staatstrau­er in der kurzen Geschichte der spanischen Demokratie begann und in dem Moment, indem das Land das Virus langsam in den Griff bekam, zeigt die sogenannte Übersterbl­ichkeit das wahre Ausmaß der Katastroph­e. Eine Pandemie trifft nicht nur die Menschen, die an dem Virus erkrankt sind. Überlastet­e Ärzte, Notaufnahm­en, die zusammenbr­echen, wichtige Operatione­n, die verschoben werden müssen – zwischen dem 1. März und dem 12. Mai sind in ganz Spanien insgesamt 43 295 Menschen mehr gestorben als im Vergleichs­zeitraum des Vorjahres – die Übersterbl­ichkeit liegt damit bei 52 Prozent. Ein großer Teil dieser Toten ist vermutlich auf die Pandemie zurückzufü­hren.

In einer Unterkunft findet sie grauenhaft­e Zustände vor: Mehrere Menschen liegen tot in ihren Betten. Das Pflegepers­onal weiß weder, welche Bewohner bereits vom Krankenwag­en abgeholt und auf die Intensivst­ation gebracht wurden, noch, in welches Krankenhau­s.

Eine Pandemie der Trauer

Die meisten Menschen in Spanien kennen daher persönlich jemanden, der gestorben ist. Ximena Di Lollo spricht von einer »Epidemie der Traurigkei­t«, die das Land überrollt. Viele Menschen sind alleine gestorben. Einige andere hat Di Lollo gemeinsam mit ihren Angehörige­n vor dem Bildschirm begleitet.

Wie Laia, die sich so fest an die Hand der Ärztin geklammert hat, als gehöre sie ihrem Sohn, der aus dem Kasten vor ihrem Bett mir ihr spricht.

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Foto: MSF/Olmo Calvo »Wir werden uns als Gesellscha­ft fragen lassen müssen: Warum haben wir diese Menschen vergessen?« Ärzte ohne Grenzen im Einsatz in einer Seniorenre­sidenz in Soria
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Foto: MSF Pandemieer­fahren: Ärztin Di Lollo

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