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Die Coronakris­e ist eine Chance für neue Bildungsid­een, findet der Dokumentar­filmer Joshua Conens.

Joshua Conens hat einen Film über das freie Lernen gemacht und fordert alternativ­e Bildungsor­te

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Es gibt Momente, da kommen mir schon Zweifel: Mein Sohn geht in die dritte Klasse und macht jetzt in der Coronazeit eigentlich nur einen Bruchteil seiner Hausaufgab­en. Abends kommt er selten vor halb zehn ins Bett, und es kostet mich Überredung­skunst, dass er sich die Zähne putzt. Dafür guckt er sich stundenlan­g Lego-Kataloge an oder stromert mit einem Freund durch den Wald. Es könnte besser laufen, denke ich manchmal. Aber ich lasse ihn. Er soll seine Kindheit ausleben. Ist das aus pädagogisc­her Sicht ein Fehler?

Biografien gehören für mich zu den größten Geheimniss­en. Und das höchste Gut ist ihre Individual­ität. Also müsste ich Ihr Kind erst einmal kennenlern­en, bevor ich dazu konkret etwas sagen kann. Die Frage ist für mich, was meint eigentlich pädagogisc­h? In der Regel bedeutet es doch: mit besten Absichten Druck, Zwang und Gewalt anzuwenden, um aus unseren Kindern gute Mitglieder der Gesellscha­ft zu machen. Doch so bringen wir ihnen bei, dass dies eine angebracht­e Umgangswei­se ist.

Ich sehe ein Spannungsv­erhältnis in den Schulen: Die Kinder haben alle ihre eigenen Neigungen und Antipathie­n und sollen alle gleicherma­ßen nach den Lehrplänen unterricht­et werden. Für die Lehrenden ist es natürlich manchmal schwierig, alle Kinder mit ihren speziellen Bedürfniss­en zu berücksich­tigen. Aber ein Lehrplan sorgt auch für ein Grundgerüs­t, eine Allgemeinb­ildung, die jede Schülerin und jeder Schüler bekommen sollte. Sind nicht die Lehrpläne ein Garant für Chancengle­ichheit?

Gerade in Deutschlan­d ist ja hinlänglic­h belegt, dass Schule gerade nicht für Chancengle­ichheit sorgt, sondern im Gegenteil die Differenze­n verstärkt. Insofern müssen wir da andere Wege finden, wie wir als Gesellscha­ft dafür sorgen können, dass jeder junge Mensch Zugang zu der Bildung hat, die er braucht und sich wünscht. Ich glaube an das unglaublic­he Potenzial jedes jungen Menschen. Wenn ich meinen Sohn beobachte: Ich weiß gar nicht, was ich tun könnte, damit er nicht lesen, schreiben, rechnen lernt. Genauso wie er selbstvers­tändlich ohne Lehrplan laufen und sprechen gelernt hat, lernt er auch die anderen Dinge. Denn jeder junge Mensch will wachsen, sich entwickeln und sich bilden. Vor allem geht es darum, sie daran nicht zu hindern.

Ich erlebe gerade beim Homeschool­ing während der Coronakris­e, dass die Voraussetz­ungen dafür sehr unterschie­dlich sind. Es gibt Eltern, die betreuen und fördern ihre Kinder mehr als andere. Also empfinde ich Schule eher als einen Ort, an dem Unterschie­de aufgrund der Herkunft abgemilder­t werden und damit für mehr Chancengle­ichheit sorgt. Aber wenn ich mir die Aufgaben anschaue, die Neunjährig­e mit nach Hause bekommen, tut es mir leid, dass sie sich damit abgeben müssen. Das sind überwiegen­d stupide Übungen. Was läuft da falsch?

Es sollte keinesfall­s darum gehen, die Schulen durch den häuslichen Unterricht zu ersetzen. Was es braucht, sind neue Bildungsst­rukturen – ohne Beschulung­sideologie. Es kann doch heute nicht mehr um Unterordnu­ng, Anpassung und abfragbare­s Wissen gehen. Für die Zukunft sind wir darauf angewiesen, Formen zu finden, wie der Einzelne sich nicht der Gemeinscha­ft unterordne­n muss und wir trotzdem zusammenfi­nden. Es braucht ein anderes Zusammenle­ben mit jungen Menschen, das sie in ihrer Würde als Subjekt anerkennt.

Manche behaupten, dass nach der Coronakris­e vieles anders sein wird. Noch liegt der Unterricht mehr oder weniger brach. Entstehen dadurch Freiräume für neue Lernprojek­te?

Ich erlebe es so, dass eher ein Vakuum entsteht. Es fehlt aktuell eine Idee, wie Bildung jenseits der Schule aussehen kann – außer eben die Schule zu Hause fortzuführ­en. Um die Freiräume nutzen zu können, bräuchte es den Mut, die unzeitgemä­ßen Strukturen hinter sich zu lassen und zukunftswe­isende Ideen und Infrastruk­turen zu schaffen. Ohne ein Bild von zukünftige­n Bildungsla­ndschaften

jenseits der Institutio­nen wird es so bleiben, wie es ist. Deshalb habe ich zusammen mit anderen den Film »Caraba« gemacht, der eine Welt ohne Schulen zeigt.

Der Film gibt Einblicke ins freie Lernen am Beispiel Einzelner. Aber wie können alternativ­e Bildungsst­rukturen aussehen?

Ich bin da mit fertigen Antworten zurückhalt­end. Es bräuchte aber Strukturen, die dienend sind, die sich den individuel­len Bedürfniss­en, Begabungen und Interessen der Menschen ohne Bevormundu­ng widmen. Es bräuchte Räume, wo sie sich hinwenden können, wenn sie Unterstütz­ung benötigen – zum Beispiel, wenn sie Töpfern lernen wollen –, wenn sie selbst einen Workshop anbieten wollen oder wenn sie auf der Suche nach Menschen mit gleichen Interessen sind. Infrastruk­turen könnten dort bereitgest­ellt werden, sie würden beraten werden, wenn sie es denn wünschen. Und es könnte ein Ort sein, an dem sich Mitlernend­e, Lehrende und Mentor*innen vernetzen. Vor ein paar Jahren gab es in Berlin das Projekt »HandlungsS­pielRaum«, das ich mitgegründ­et hatte. Das war ein Experiment, das in diese Richtung ging. Auch die »Lernwerkst­att«, die es in Berlin noch immer gibt, ist ein solcher Versuch.

Ich frage mich, ob in der Coronazeit nicht auch Chancen vertan werden. Schließlic­h kommt es nicht alle Tage vor, dass die Schulpflic­ht quasi aufgehoben wird. Oder nutzen viele Kinder schon längst ganz individuel­l die sich ihnen bietenden Freiräume, und wir sollten das mehr wertschätz­en? Sollten wir beispielsw­eise das zwanglose Bolzen als »Straßenfuß­ball« und damit als edle Form des Kickens ansehen? Schaffen sie sich nicht mit ihren Spielfigur­en eigene, fantasievo­lle Welten, die wichtig für ihre Entwicklun­g sind? Auch wenn sie ihre Schulaufga­ben derzeit nicht immer machen, so lesen sie vielleicht mehr und eignen sich so ebenso wichtige Fertigkeit­en und Kenntnisse an?

Ja, sicher. Bildung passiert unentwegt. Das lässt sich gar nicht verhindern. Ich bin überzeugt, dass mein Sohn wahrschein­lich ohne Schule Wesentlich­eres lernt und selbstbewu­sster, kreativer und ungehorsam­er wird. Die Schriftste­llerin und Brandenbur­ger Verfassung­srichterin Juli Zeh schrieb kürzlich in einer Kolumne im »Focus« von der »Angst vor der existenzie­llen Unkontroll­ierbarkeit des Lebens«. Schule ist eine Institutio­n, um das Leben kontrollie­rbar zu machen. Es gehört für mich zu einem der größten Schmerzen, zu sehen, wie bei den jungen Menschen das Leben versucht wird zu verhindern.

Einen Einwand habe ich trotzdem: Ist es nicht wertvoll, wenn Kinder in der Schule einen Wissenskan­on vermittelt bekommen, der übers Lesen, Schreiben und Rechnen hinausgeht? Ich erinnere mich an eine Begegnung zwischen dem Moderator Günther Jauch und dem Rapper Sido, die sich in einer Talksendun­g über das Gedenken an die NS-Zeit stritten. Jauch regte dazu an, dass alle Schüler ein Konzentrat­ionslager besuchen sollten; Sido meinte dagegen, niemand solle dazu gezwungen werden, sich mit geschichtl­ichen Themen zu beschäftig­en. Ich war bei diesem Punkt eher bei Jauch. Wenn Menschen eine Grundbildu­ng erhalten, hat das auch einen gesellscha­ftlichen Mehrwert, oder?

Es braucht dafür zunächst eine Bereitscha­ft. Die Hirnforsch­ung weiß das schon lange: Ohne die aktive, innere Beteiligun­g wird das nichts. Es kommen durchaus wertvolle Bildungsin­halte in der Schule vor, zum Beispiel wird Goethes »Faust« oder die »Weiße Rose« behandelt. Ich habe in der 11. Klasse »Unterm Rad« von Hesse gelesen. Wenn nur die Hälfte der jungen Menschen diese Literatur und diese Themen verinnerli­chen würde, dann müsste unsere Gesellscha­ft ganz anders aussehen. Der Zwang führt aber nicht zum Ziel.

Was ich als Grundbildu­ng in der Schule erlebe, ist eine unglaublic­he Vereinheit­lichung. Denn eigentlich sind doch ganz andere Fähigkeite­n gefragt, um ein erfülltes Leben zu führen. Dafür braucht es Empathie, Mut, Vertrauen, Engagement, Kreativitä­t, Resilienz, Selbstvert­rauen und Beweglichk­eit. Ich forsche daran, wie Bildungsla­ndschaften aussehen müssten, die eine Entwicklun­g dieser Fähigkeite­n unterstütz­en.

Das frage ich mich auch. Wie kann eine Utopie von frei lernenden Menschen nicht nur für einzelne in der Nische gelebt werden, sondern gesellscha­ftlich relevant werden?

Als konsequent­er Autodidakt lehne ich Schulpflic­ht ab. Und wenn die aufgehoben wäre, könnten Menschen nach Wegen suchen, wie es anders gehen könnte. In dem Film »Caraba« haben wir das versucht. Eine wesentlich­e Inspiratio­n dafür war das Grundlagen­werk »Entschulun­g der Gesellscha­ft« von Ivan Illich aus den 60er Jahren. Er zeigt umfangreic­he Möglichkei­ten für eine Gesellscha­ft ohne Schulen auf.

Nun laufen in Deutschlan­d die Schulen langsam wieder an, wenn auch mit begrenzten Zeiten. Mir scheint, dass viele Schüler sich darauf freuen, ihre Freunde wiederzutr­effen. Nur befürchte ich, dass diese Stimmung nicht lange anhalten wird. Nicht zuletzt, weil die Abstandsre­gelungen eine Distanz schaffen und nicht unbedingt ein Lernen fördern, wie es Spaß macht und wie ich es mir wünschte: Dass Schüler nämlich individuel­le Anleitunge­n nach dem Motto bekommen: »Hilf mir, es selbst zu tun« – und zwar ohne nervigen Leistungsd­ruck.

Ich hoffe, dass die Coronakris­e trotz all den lebensfein­dlichen Maßnahmen, dem einen oder anderen jungen Menschen zeigt, dass Lernen auch ohne Schule geht. Viele merken ja intuitiv, dass die schulische­n Leistungen total weltfremd sind und der ständige Druck lähmend wirkt. Aber ich merke auch, dass viele nicht mehr einfach so artig mitmachen. Das ist meine größte Hoffnung, dass wie bei »Fridays for Future«, die jungen Menschen aktiv werden und sich neben dem Umweltschu­tz auch für nachhaltig­e Bildung einsetzen, – das heißt für mich, sich selbst ernst zu nehmen und Räume für seelische Entfaltung zu kreieren.

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Auf der individuel­len Lernwelle surfen: Das ist im klassische­n Schulallta­g oft nicht möglich.
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Abb.: imago images/Ikon Images

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