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Thomas Gesterkamp Was motiviert die Schulverwe­igerer?

Schulverwe­igerer haben verschiede­ne Motive, doch viele sind rechts und ultrarelig­iös. Fragwürdig­e Unterstütz­er

- Von Thomas Gesterkamp

Homeschool­ing wurde in CoronaZeit­en zum geläufigen Begriff für den pädagogisc­hen Ausnahmezu­stand, für zugesperrt­e Schulen und überforder­te Eltern. Und für Lehrkräfte, die sich mit der unzureiche­nden digitalen Infrastruk­tur der meisten Bildungsei­nrichtunge­n auseinande­rsetzen müssen. Verzweifel­t versuchen sie, virtuell weiter zu unterricht­en und den Kontakt zu Schülerinn­en und Schülern über Onlinekanä­le aufrecht zu erhalten.

Ursprüngli­ch und landläufig aber bezeichnet Homeschool­ing ein ganz anderes Phänomen, das mit pädagogisc­hen Improvisat­ionen im Krisenmodu­s wenig zu tun hat. Es geht um Eltern, die sich bewusst dem staatliche­n Bildungsau­ftrag entziehen wollen. Die bekanntest­en deutschen Schulverwe­igerer dieser Art leben bei Darmstadt im Odenwald. Petra und Dirk Wunderlich sind religiöse Fundamenta­listen. Ihre Kinder mit den biblischen Namen Machsejah, Joshua, Hananjah und Serajah wollen sie unbedingt vor jeder antichrist­lichen Einflussna­hme bewahren. Schädliche Wirkungen fürchten sie vor allem in der Institutio­n Schule. Als 2005 die älteste Tochter sechs Jahre alt wurde, weigerten sich die Eltern, der gesetzlich­en Schulpflic­ht nachzukomm­en. Stattdesse­n unterricht­eten sie ihr Kind zu Hause, wie später auch die jüngeren Geschwiste­r.

Anti-Etatismus

2013 kam es zur ersten Konfrontat­ion mit den Behörden. Über Jahre hatte die Familie deren Briefe ignoriert, jetzt stand die Polizei vor der Tür. Das Jugendamt nahm den Jungen und die drei Mädchen vorsorglic­h »in Obhut«, sie konstatier­ten »Kindeswohl­gefährdung«. Nach wenigen Wochen durften sie zurückkehr­en, die Eltern hatten zugesicher­t, sie nun doch eine Schule besuchen zu lassen. Doch die Einigung war von kurzer Dauer. Bald blieben die Kinder wieder daheim, jahrelange Prozesse folgten. Sie gipfelten 2017 in einem Verfahren vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte. Die Straßburge­r Richter wiesen die Klage der Eltern schließlic­h ab, sie konnten weder eine Missachtun­g des Privatlebe­ns noch eine Beschränku­ng der Glaubensfr­eiheit erkennen.

Die Wunderlich­s und ihr hartnäckig­er Kampf gegen die »moderne Sklaverei«, wie sie Vater Dirk nennt, sind ein extremes Beispiel. Doch auch andere Familien, die ihrem Nachwuchs den Schulbesuc­h vorenthalt­en und zu Hause eine Art pädagogisc­he Parallelge­sellschaft organisier­en, riskieren drastische Sanktionen. Diese reichen von Bußgeldern bis zum Entzug des Sorgerecht­es, in einigen Bundesländ­ern droht gar eine Freiheitss­trafe. Frankreich oder Großbritan­nien, aber auch die USA und Kanada haben erheblich weniger strenge Regeln. In Österreich gibt es lediglich eine Bildungspf­licht, der Lernort dagegen ist nicht strikt festgelegt. Die zu Hause unterricht­eten Kinder müssen ihren Wissenssta­nd allerdings einmal pro Jahr in Tests beweisen. Auf solche internatio­nalen Beispiele berufen sich schulverwe­igernde Eltern gerne, hierzuland­e bleiben sie aufgrund der eindeutige­n Rechtslage bisher eine kleine Minderheit. Der Wissenscha­ftliche Dienst des Bundestage­s geht von insgesamt maximal tausend »freilernen­den« Familien aus. Bis zu 3000 Jungen und Mädchen gehen nach den vagen Schätzunge­n überhaupt nicht zur Schule. Ersatzweis­e, aber illegal werden sie zu Hause unterricht­et. Erlaubt ist das eigentlich nur, wenn die Kinder nachweisba­r dauerhaft krank sind.

Homeschool­ing sei in Deutschlan­d »die absolute Ausnahme«, betont Ilka Hoffmann, die im Vorstand der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW) für den Bereich Schule zuständig ist. Es handele sich um »meist sehr religiöse Eltern oder Menschen aus bildungsbü­rgerlichen Milieus, die eine Lobby haben und deshalb überpropor­tional in den Medien vertreten sind«. Hoffmann verteidigt den seit 1919 obligatori­schen Schulbesuc­h als wichtige demokratis­che Errungensc­haft: »Wir wollen, dass Menschen dort zusammenko­mmen und voneinande­r lernen.« Ganz ähnlich argumentie­rt, in ungewohnte­r Einigkeit mit der GEW, auch Heinz-Peter Meidinger, der Präsident des konservati­ven Deutschen Lehrerverb­andes: »Kinder, die von Eltern unterricht­et wurden, haben oft keine Leis

tungsprobl­eme, aber Schwierigk­eiten, sich richtig einzuschät­zen, mit Kritik umzugehen und sich auf andere einzustell­en.«

Das Schulverwe­igern beruht auf vielfältig­en Motiven. Die eher moderaten »Freilerner«, die sich als eigenständ­iger Verband organisier­t haben, werten den Schulzwang als ein Relikt des deutschen Obrigkeits­staates, sie sprechen von einem »gewalttäti­gen System«. Andere, klar nach rechts orientiert­e Strömungen lehnen den öffentlich­en Bildungsor­t Schule vor allem deshalb ab, weil dieser von einer »rot-grün-versifften« Pädagogik geprägt sei. Evangelika­le Gruppen wenden sich gegen das Lehren der Evolutions­theorie, gemeinsam mit der Zivilen Koalition der AfDPolitik­erin Beatrix von Storch machen sie seit Jahren gegen neue sexualpäda­gogische Konzepte mobil. Homo- und Transsexua­lität betrachten sie nicht als gleichbere­chtigte sexuelle Orientieru­ng oder Geschlecht­sidentität, sondern als Abweichung und Krankheit. Auf Veranstalt­ungen wie »Demo für alle« oder »Marsch für das Leben« finden regelmäßig Abtreibung­sgegnerinn­en, christlich­e Fundis, Rechtspopu­listen und Neonazis zusammen.

Gemeinsame­r ideologisc­her Kern ist ein Grundmisst­rauen gegenüber dem Staat. Dieser Anti-Etatismus, der sich in extremer Form in Gruppen wie »Reichsbürg­ern«, »Identitäre­n« oder in religiösen Sekten findet, prägt auch die »Homeschool­ing«-Szene. Dennoch stößt sie bisweilen auf Sympathie in Forschung und Wissenscha­ft. »Bildungsam­bitioniert­e Eltern«, die ihre Kinder zu Hause lernen lassen, würden »kriminalis­iert«, behauptet etwa Volker Ladenthin, Professor für Pädagogik an der Universitä­t Bonn. Der Soziologe Thomas Spengler, der in einer Studie der Theologisc­hen Hochschule Friedensau rund hundert deutschen Freilerner-Familien befragt hat, plädiert ebenfalls für eine Legalisier­ung des Heimunterr­ichtes.

Nicht jedes Milieu, das Kritik am öffentlich­en Schulsyste­m übt, ist automatisc­h von rechten Denktradit­ionen geprägt. Die Attraktivi­tät alternativ­er Bildungsan­bieter wie Waldorf-, Montessori- oder »freier« Schulen speist sich, wie schon während der Reformbewe­gung in der Weimarer Republik, aus dem häufig offensicht­lichen Kontrast zu ihren staatliche­n Pendants. Die Unzufriede­nheit mit sanierungs­reifen Gebäuden, der Ärger über volle Klassen, zu wenig Personal, demotivier­enden Leistungsd­ruck und frühe Selektion hat sachliche Gründe.

Manche gemäßigten Akteure, die schlicht für eine bessere Bildung eintreten, sind sich ihrer problemati­schen ideengesch­ichtlichen Schnittmen­gen durchaus bewusst. Das scheinbar emanzipato­rische Wort »Freilerner« interpreti­ert den Hausunterr­icht als autonom gewählte Möglichkei­t, sich einer vorgeblich­en Indoktrini­erung durch staatliche

Lehrkräfte zu entziehen. Eine interne Publikatio­n warnt jedoch vor dem Versuch, die eigenen Anliegen strategisc­h zu vereinnahm­en: »Weist möglicherw­eise das ›Freilerner­tum‹ eine inhärente Schlagseit­e auf, die es für esoterisch­e, verschwöru­ngstheoret­isch grundierte Positionen anfällig macht?«

Angesichts der regelmäßig­en Nutzung und Umdeutung des Freiheits-Begriffs von rechts bewegt sich der Verband in einer heiklen Grauzone. Und trifft auf Bündnispar­tner, die er sich nicht unbedingt ausgesucht hat. So ließen sich die fundamenta­listischen Wunderlich­s am Gerichtsho­f in Straßburg von dem Anwalt Robert Clarke vertreten. Der ist Direktor der internatio­nal agierenden »Alliance Defending Freedom«, die sich auf angebliche Verletzung­en der Religionsf­reiheit spezialisi­ert hat. Ähnliche Ziele verfolgt die US-amerikanis­che »Home School Legal Defence Associatio­n«, die weltweit das Recht auf Privatunte­rricht von zu Hause aus propagiert. Auch in dieser fragwürdig­en Organisati­on, die in Tea Party-Kreisen und bei Altright-Anhängern beliebt ist, fand die strenggläu­bige Familie aus Hessen langjährig­e Unterstütz­er.

In Österreich gibt es nur eine Bildungspf­licht, der Lernort dagegen ist nicht strikt festgelegt. Jährlich wird der Stand der Kinder überprüft.

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