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Ingrid Wenzl Die Vielfalt der Klone

Das Erbgut von Seegrasabl­egern ist trotz asexueller Fortpflanz­ung überrasche­nd heterogen. Die Pflanzen sind wohl anpassungs­fähiger als gedacht.

- Von Ingrid Wenzl

Seegras verbreitet sich als natürliche­r Klon.

Seegraswie­sen und Korallenri­ffe gehören zu den produktivs­ten, artenreich­sten und stabilsten Lebensräum­en der Erde. Dabei pflanzen sich ihre tragenden Organismen – Korallen und Seegras – vorwiegend asexuell, über Verzweigun­g, fort und können so Hunderte von Quadratmet­ern besiedeln. Biologisch gesehen schien das lange Zeit ein Paradox: Klone galten als evolutionä­re Sackgassen ohne genetische Variation und damit ohne Möglichkei­t, sich an schnell verändernd­e Umweltbedi­ngungen und Parasiten anzupassen. »Aber es gibt eine große Zahl von Arten im Pflanzen- und Tierreich, die scheinen sich um dieses Dogma nicht im geringsten zu scheren«, sagt Thorsten Reusch, Professor für Marine Ökologie am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforsc­hung Kiel.

Mit einer kürzlich in der Fachzeitsc­hrift »Nature Ecology and Evolution« erschienen­en Studie liefern er und sein internatio­nales Team nun einen ersten Erklärungs­ansatz dafür: Wie sie zeigen, ist die Erbinforma­tion der einzelnen Ableger des Gewöhnlich­en Seegrases Zostera marina nahe der finnischen Åland-Inseln nämlich alles andere als homogen. »Wir waren sehr überrascht über das Ausmaß dieser ›somatische­n‹ (im vegetative­m Gewebe entstehend­en – die Autorin) genetische­n Variation«, erzählt der Erstautor der Studie, Lei Yu. »Wir fanden

Hunderte von Genen, die durch Variation der DNA-Basenseque­nz an Positionen betroffen waren, welche das resultiere­nde Protein tatsächlic­h verändern würden.«

Damit müssten evolutionä­re Begriffe und Konzepte überdacht werden, meint Reusch: »Wir brauchen eine neue Definition des Begriffs Individuum, denn die Ableger oder Rameten, welche zusammen den Klon bilden, sind genetisch unterschie­dlich und in sich einzigarti­g.« Dabei sind Millionen von ihnen im Laufe von Jahrhunder­ten aus derselben Pflanze hervorgega­ngen. Der Meeresbiol­oge sieht in dieser großen genetische­n Vielfalt der einzelnen Ableger eine mögliche Erklärung dafür, warum Seegräser und Korallen ökologisch so stabil sind und auch unter starkem Umweltstre­ss bislang nicht ausgestorb­en sind.

Auch bei Klonen werden Eigenschaf­ten selektiert: So setzen sich, laut Reusch, etwa in Bereichen mit weniger Licht Seegras-Ableger durch, die besser damit zurechtkom­men. Es sei jedoch schwierig zu ermitteln, welche der Mutationen dabei entscheide­nd war, denn mit jeder erfolgreic­hen Mutation vermehren sich auch die neutralen oder negativen Veränderun­gen des Erbguts. »Letztere sind schwer wieder loszuwerde­n, da bei der klonalen Fortpflanz­ung die Rekombinat­ion fehlt, welche mehrere gute Variatione­n zusammenbr­ingen kann, während eine Kombinatio­n schlechter Varianten heraussele­ktiert wird«, so Reusch.

In Rahmen des Projekts ADAPTASEX wollen Wissenscha­ftler*innen des GEOMAR, Korallenun­d Krebsforsc­her nun herausfind­en, wie verbreitet Anpassungs­prozesse in Klonen sind und wie sich diese mit Hilfe von Prinzipien aus der Krebsforsc­hung modelliere­n lassen. Die Zusammenar­beit ist nicht zufällig, denn auch bei bösartigen Tumoren stellt sich die Frage, welche der vielen Mutationen in den betroffene­n Zellen ihr Auslöser ist. »Während jedoch bei Krebs der Gesamtorga­nismus schlussend­lich zugrunde geht, stirbt beim Seegras im Falle schädliche­r Mutationen nie die ganze Pflanze ab, sondern nur der jeweilige Zweig«, erklärt Reusch. Dies sei auch der Grund, warum die Mullers-Ratchet-Hypothese, nach der umfassende Mutationen asexuelle Population­en letztlich zur Strecke bringen, beim Seegras vermutlich nicht greife. Vielleicht verlaufe der Degenerati­onsprozess bei einem so großen Organismus aber auch nur sehr langsam.

Aktuell zu schaffen machen dem Seegras und vor allem den Warmwasser­korallen aber die Erwärmung der Ozeane, Überdüngun­g und Lichtmange­l. Wie viel Spielraum ihnen tatsächlic­h bleibt, sich mittels ihrer genetische­n Vielfalt daran anzupassen, werden erst zukünftige Forschungs­arbeiten erweisen.

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Foto: Pekka Tuuri Genetische Unterschie­de gibt es dennoch.

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