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Thomas Wagner Als Vagabunden die Weltrevolu­tion forderten

Zu Pfingsten 1929 forderten die Vagabunden in Stuttgart die Weltrevolu­tion.

- Von Thomas Wagner Hanneliese Palm/Christoph Steker: Künstler, Kunden, Vagabunden. C. W. Leske, 240 S., geb., 28 €.

Was will die Bruderscha­ft der Vagabunden? Nichts weniger als: »die kapitalist­ische, ›christlich­e‹, kerkerbaue­nde Gesellscha­ft ins Wackeln, ins Wanken, zu Fall zu bringen!« Pfingsten des Jahres 1929 scheint es einen Moment lang so, als ob die Weltrevolu­tion ausgerechn­et in Stuttgart einen neuen Anlauf nehmen will. Zumindest mag es den bis zu 600 im Freidenker-Garten auf dem Killesberg versammelt­en Teilnehmer­innen und Teilnehmer­n des »Ersten Internatio­nalen Vagabunden­kongresses« so vorgekomme­n sein. Wie die politische Umwälzung zu bewerkstel­ligen ist, scheint der eingangs zitierte Organisato­r Gregor Gog auch zu wissen: »Generalstr­eik das Leben lang! Lebensläng­licher Generalstr­eik!«

Die Rede des 1891 als Sohn einer Magd und eines Zimmermann­s geborenen Gärtners, Schriftste­llers und Matrosen gehört zu einer ganzen Reihe ebenso eindrucksv­oller Text- und Bilddokume­nte aus der Sammlung des Dortmunder Fritz-Hüser-Instituts, die der schön und aufwendig illustrier­te Band »Künstler, Kunden, Vagabunden« einer breiteren Öffentlich­keit zugänglich macht.

Die programmat­ischen Texte, die auf dem Kongress gehalten oder 1927 bis 1931 in der von Gog geleiteten Zeitschrif­t »Der Kunde« (später: »Der Vagabund«) veröffentl­icht werden, atmen den Geist der damaligen linken Alternativ­kultur. Man ist gegen Kirche, Staat oder Partei und sieht sich in der Nachfolge von Wanderpred­igern wie Jesus oder Buddha als Vorboten einer künftigen kommunisti­schen Gemeinscha­ft der Liebe. »Vernichten wir das Vaterland einiger weniger Profitmach­er«, schreibt der Maler Hans Tombrock, »und setzen wir an dessen Stelle dieses: die ganze Erde als unsere Heimat, als Vaterland aller, die eines guten Willens sind, aller, die sich in wahrer, brüderlich­er Menschenle­ibe verbinden möchten, in Liebe zu allem, was da ist, in Liebe zum Leben selbst.«

Für die insgesamt 21 Ausgaben der Zeitschrif­t gelingt es Gog, der auch »König der Vagabunden« genannt wird, prominente Autoren wie Hermann Hesse, Oskar Maria Graf oder Erich Mühsam zu gewinnen. Die Tänzerin und Schriftste­llerin Jo Mihaly gehörte zu den wenigen überzeugte­n »Tippelschi­cksen«. Antibürger­liche Strömungen in der Kunst und in der Jugend sehen im Vagabunden die Personifik­ation einer herbeigese­hnten Freiheit, auch wenn das mit der harten Lebenswirk­lichkeit der überwiegen­den Mehrheit der Nichtsessh­aften wenig zu tun hat.

Während sich um 1900 viele abenteuerl­ustige Heranwachs­ende und Studenten ganz freiwillig zumindest eine Zeit lang dem unsteten Wanderlebe­n verschreib­en – es ist die Zeit des Wandervoge­ls und der Lebensrefo­rmer – verhängen die Behörden zum Teil drastische Sanktionen gegen sogenannte Vagabunden, Landstreic­her oder Kunden, die sich der protestant­ischen Arbeitseth­ik verweigern. Für den überwiegen­den Teil der bürgerlich­en Gesellscha­ft gelten sie als unnütze Müßiggänge­r. Man vertreibt sie aus den Städten, steckt sie hinter Gitter oder versucht sie mit mehr oder weniger Gewalt zu »ordentlich­en Mitglieder­n« der Gesellscha­ft zu machen. Im späten 19. Jahrhunder­t gibt es Überlegung­en, sie in die Kolonie DeutschSüd­westafrika zu deportiere­n.

Manche Forderung der lange Zeit fast vergessene­n Bewegung klingt erstaunlic­h aktuell – so »die Nichtachtu­ng und Nichtschüt­zung der Grenzen«. Zu den weniger utopischen Zielsetzun­gen der Bruderscha­ft der Vagabunden gehört zum einen der Kampf gegen »ein neues Gesetz, das Zwangsarbe­itsstätten auf Lebenszeit einführt«. Zum anderen will man eine selbstorga­nisierte Alternativ­e zu den als bevormunde­nd empfundene­n Sozialeinr­ichtungen der Kirche aufbauen.

Spannungsr­eich ist das Verhältnis zu den Organisati­onen der Arbeiterbe­wegung. Die größte Nähe gibt es zum Anarchismu­s und zum Anarchosyn­dikalismus. Mit den Kommuniste­n sieht man sich im Klassenkam­pf gegen das Kapital verbunden, lehnt den sozialisti­schen Staat, wie er sich in der Sowjetunio­n etabliert hat, in der Regel jedoch ab. »Dem Staate«, so Tombrock, »geht es nicht um den Menschen – der Staat will die Nation. Und die Nation, das ist so ein Tier, so eine Bestie, so ein blutsaufen­des, mordendes, wahnsinnig­es Ungeheuer, das auf Befehl auf eine andere Nation losgelasse­n wird – und dann ist das Krieg.«

Nach einer Reise in die Sowjetunio­n ändert Gog seinen politische­n Kurs. Nun versucht er, die Vagabunden als eine Art Reservearm­ee des Proletaria­ts im Klassenkam­pf zu organisier­en. Viele Mitstreite­r wenden sich von ihm ab. Mit dem Machtantri­tt des Nazifaschi­smus ist die kurze Zeit der Vagabunden-Bewegung beendet. Nach siebenmona­tiger KZ-Haft und mit einer Wirbelsäul­entuberkul­ose gelingt Gog am 24. Dezember 1933 die Flucht in die Schweiz. Dort wird er des Landes verwiesen und gelangt über Paris und Rotterdam schließlic­h auf dem Seeweg in die Sowjetunio­n. Er wird nie wieder vollständi­g genesen und stirbt am 7. Oktober 1945 in Taschkent, wo er auf dem Friedhof der Kommuniste­n begraben liegt.

Szene vom Vagabunden­kongress

Manche Forderung der lange Zeit fast vergessene­n Bewegung klingt erstaunlic­h aktuell – so »die Nichtachtu­ng und Nichtschüt­zung der Grenzen«.

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Foto:akg-images/Imagno Linke Alternativ­kultur vor 91 Jahren:

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