Sozialstaat in Schieflage
Grundrechte-Report kritisiert zunehmende Spaltung und Ausgrenzung
Berlin. Bürger- und Menschenrechtsorganisationen kritisieren eine zunehmende soziale Spaltung in Deutschland sowie Einschränkungen von Grundrechten durch staatliche Institutionen. Als Beispiele nennt der am Dienstag in Berlin vorgestellte 24. Grundrechte-Report zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland »Versagen bei der Gewährung sozialer Grundrechte und beim Klimaschutz, die Krise des bezahlbaren Wohnraums« sowie die Ausweitung polizeilicher Befugnisse.
Im Fokus des diesjährigen Berichts stehen vor allem soziale Themen. Zwei Texte widmen sich der Pflicht des Staates für ein tragfähiges und auf Patientenbedürfnisse orientiertes Gesundheitssystem. »Es geht nur noch darum, dass Krankenhäuser schwarze oder grüne Zahlen
schreiben«, kritisierte die Krankenschwester Ulla Hedemann bei der Präsentation des Reports. Weitere Artikel stellen Fragen nach dem staatlichen Handlungsspielraum, »um den aufgeheizten Wohnungsmarkt einzuhegen«. Ingrid Hoffmann von der Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« plädierte in Berlin für die Vergesellschaftung großer Berliner Immobilienkonzerne sowie die Aufnahme des Rechtes auf Wohnen in die Verfassung.
Bei der Präsentation des Grundrechte-Reports wurde die anhaltende Notwendigkeit von zivilgesellschaftlichem Engagement betont. »Eine Demokratie funktioniert nicht, wenn man seinen Bürgerpflichten nicht nachkommt«, mahnte der Pianist Igor Levit. Der Bürgerrechtler warnte auch vor einer Radikalisierung
der Sprache in der politischen Debatte. Es sei zwar notwendig, Regierungen für ihr Handeln zu kritisieren. Sprachliche Entgrenzung gehe aber Hand in Hand mit politischer Entgrenzung. Es müsse möglich sein, Debatten zu führen, ohne dass Vorurteile geschürt werden.
Herausgeber des Grundrechte-Reports sind zehn Organisationen, darunter die Humanistische Union, die Neue Richtervereinigung, Pro Asyl, der Republikanische Anwältinnenund Anwälteverein, das Grundrechtekomitee sowie die Gesellschaft für Freiheitsrechte. Die Autoren veröffentlichen 39 Beiträge zu verschiedenen Themengebieten, die an die Grundrechte angelehnt sind.
Missachtete soziale Rechte stehen im Fokus des diesjährigen Grundrechtereports. Die Autoren kritisieren anhaltende Prozesse der Verdrängung und Kommerzialisierung.
Das Gesundheitswesen 2020 in Deutschland: Geburtskliniken werden geschlossen, weil sie nicht lukrativ genug sind. Herzkatheteruntersuchungen dagegen werden übermäßig angeordnet, weil sie hohe Einnahmen versprechen. Ob jemand zwingend eine Behandlung benötigt, scheint zweitrangig – Profit steht im Vordergrund. Pflegekräfte leiden derweil unter Arbeitsverdichtung, Outsourcing und schlechter Bezahlung. »Grundrechte von Patienten und Arbeitnehmern werden gefährdet und eingeschränkt«, sagte die Krankenschwester Ulla Hedemann am Dienstag in Berlin bei der Vorstellung des 24. Grundrechte-Reports zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Sie forderte: »Wir brauchen ein Gesundheitssystem, was patientenorientiert ist.«
Bürger- und Menschenrechtsorganisationen veröffentlichen seit 1997 den Grundrechte-Report. Herausgeber der jährlichen erscheinenden Untersuchung
sind unter anderem das Grundrechtekomitee, die Humanistische Union, die Neue Richtervereinigung, Pro Asyl und der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein. Erstmals ist auch die Gesellschaft für Freiheitsrechte dabei. Der aktuelle Report besteht aus 39 Beiträgen, die sich um ein breites Themenspektrum drehen. Untersucht werden Entscheidungen von Parlamenten, Behörden und Gerichten, aber auch von Privatunternehmen. Im Fokus stehen dieses Jahr vor allem soziale Missstände im Gesundheitswesen sowie auf dem Wohnungsmarkt.
»Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes verpflichtet den Staat dazu, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze zu sorgen. Es ist unstrittig, dass der Staat dafür auch in den freien Markt eingreifen darf«, betonen die Herausgeber im Vorwort des Berichtes. Dies habe das Bundesverfassungsgericht im Sommer 2019 mit seiner Entscheidung zur Mietpreisbremse auch bekräftigt. Der Staat stehe demnach in der Pflicht, der Verdrängung wirtschaftlich weniger leistungsfähiger Bevölkerungsgruppen aus stark nachgefragten Wohnquartieren entgegenzuwirken. »Wir haben in Berlin 85 Prozent der Bevölkerung, die zur Miete wohnen«, sagt Ingrid
Hoffmann von der Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« bei der Vorstellung des Berichts. Für diese Menschen sei es von Bedeutung, soziale Rechte im Gesetz zu verankern. »Gesundheits- und Wohnungsversorgung mit Verfassungsrang wären wünschenswert«, so Hoffmann. Auch die Grundsicherung Hartz IV stand dabei in der Kritik der Autoren. »Kürzungen des Hartz-IV-Satzes sind weiterhin möglich und verkehren das Existenzminimum zu einer ironischen Worthülse«, hieß es.
Bei der Vorstellung des Reports wurde ebenfalls die Bezugname der jüngsten bundesweiten Corona-Demonstrationen auf die Bürger- und Grundrechte diskutiert. »Grundsätzlich ist es zu begrüßen, wenn die Einhaltung der Grundrechte eingefordert wird«, sagte Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee. Die Kundgebungen der »Corona-Rebellen« seien hier jedoch kritisch zu sehen. »Grundrechte sind ein Gesamtpaket. Man kann nicht nur die eigene Freiheit propagieren, sondern muss auch die Rechte der Mitmenschen respektieren«, sagte Winkler. Gesellschaftliche Solidarität hänge mit den Grundrechten zusammen. »Es ist notwendig, alle staatlichen Verordnungen in Frage zu stellen, aber das muss solidarisch und mit Achtsamkeit geschehen und unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Erkenntnisse.« Winkler verwies diesbezüglich auf antirassistische Demonstrationen unter dem Motto »Lasst niemanden zurück« zur Evakuierung der griechischen Flüchtlingslager.
Weitere Themenbeiträge behandelten unter anderem die Einführung der erweiterten DNA-Analyse im Strafprozessrecht, die Gefährdung von Umwelt und Gesundheit durch die Nitratbelastung des Grundwassers, der Einsatz von Elektroschockwaffen im Polizeistreifendienst, rechtsradikale Netzwerke in Sicherheitsbehörden sowie die Ausweitung der Abschiebehaft.
Das Fazit zum Stand der Grundrechte fiel eher ernüchternd aus. »Wir sehen einen starken Trend zur Überwachung, zur Ausweitung der Befugnisse von Sicherheitsbehörden sowie einen Anstieg von institutionellem Rassismus«, so Michèle Winkler vom Grundrechtekomitee. Auch die Schere zwischen Arm und Reich öffne sich weiter. Zivilgesellschaftliches Engagement gegen solche und andere Missstände sei im vergangenen Jahr jedoch »wieder allzu oft erschwert« worden, resümieren die Autoren.
Bürgerrechtsorganisationen präsentierten in Berlin unter dem Motto »Umkämpfte Räume« den neuen Grundrechtereport. Sie wiesen darauf hin, dass das Grundgesetz keine soziale Ausgrenzung vorsieht. Zivilgesellschaftliches Engagement gegen Missstände sei nötig – werde jedoch erschwert.
»Wir sehen einen starken Trend zur Überwachung, zur Ausweitung der Befugnisse von Sicherheitsbehörden sowie einen Anstieg von institutionellem Rassismus.«
Michèle Winkler, Grundrechtekomitee