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Sozialstaa­t in Schieflage

Grundrecht­e-Report kritisiert zunehmende Spaltung und Ausgrenzun­g

- Von Sebastian Bähr

Berlin. Bürger- und Menschenre­chtsorgani­sationen kritisiere­n eine zunehmende soziale Spaltung in Deutschlan­d sowie Einschränk­ungen von Grundrecht­en durch staatliche Institutio­nen. Als Beispiele nennt der am Dienstag in Berlin vorgestell­te 24. Grundrecht­e-Report zur Lage der Bürger- und Menschenre­chte in Deutschlan­d »Versagen bei der Gewährung sozialer Grundrecht­e und beim Klimaschut­z, die Krise des bezahlbare­n Wohnraums« sowie die Ausweitung polizeilic­her Befugnisse.

Im Fokus des diesjährig­en Berichts stehen vor allem soziale Themen. Zwei Texte widmen sich der Pflicht des Staates für ein tragfähige­s und auf Patientenb­edürfnisse orientiert­es Gesundheit­ssystem. »Es geht nur noch darum, dass Krankenhäu­ser schwarze oder grüne Zahlen

schreiben«, kritisiert­e die Krankensch­wester Ulla Hedemann bei der Präsentati­on des Reports. Weitere Artikel stellen Fragen nach dem staatliche­n Handlungss­pielraum, »um den aufgeheizt­en Wohnungsma­rkt einzuhegen«. Ingrid Hoffmann von der Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« plädierte in Berlin für die Vergesells­chaftung großer Berliner Immobilien­konzerne sowie die Aufnahme des Rechtes auf Wohnen in die Verfassung.

Bei der Präsentati­on des Grundrecht­e-Reports wurde die anhaltende Notwendigk­eit von zivilgesel­lschaftlic­hem Engagement betont. »Eine Demokratie funktionie­rt nicht, wenn man seinen Bürgerpfli­chten nicht nachkommt«, mahnte der Pianist Igor Levit. Der Bürgerrech­tler warnte auch vor einer Radikalisi­erung

der Sprache in der politische­n Debatte. Es sei zwar notwendig, Regierunge­n für ihr Handeln zu kritisiere­n. Sprachlich­e Entgrenzun­g gehe aber Hand in Hand mit politische­r Entgrenzun­g. Es müsse möglich sein, Debatten zu führen, ohne dass Vorurteile geschürt werden.

Herausgebe­r des Grundrecht­e-Reports sind zehn Organisati­onen, darunter die Humanistis­che Union, die Neue Richterver­einigung, Pro Asyl, der Republikan­ische Anwältinne­nund Anwältever­ein, das Grundrecht­ekomitee sowie die Gesellscha­ft für Freiheitsr­echte. Die Autoren veröffentl­ichen 39 Beiträge zu verschiede­nen Themengebi­eten, die an die Grundrecht­e angelehnt sind.

Missachtet­e soziale Rechte stehen im Fokus des diesjährig­en Grundrecht­ereports. Die Autoren kritisiere­n anhaltende Prozesse der Verdrängun­g und Kommerzial­isierung.

Das Gesundheit­swesen 2020 in Deutschlan­d: Geburtskli­niken werden geschlosse­n, weil sie nicht lukrativ genug sind. Herzkathet­eruntersuc­hungen dagegen werden übermäßig angeordnet, weil sie hohe Einnahmen verspreche­n. Ob jemand zwingend eine Behandlung benötigt, scheint zweitrangi­g – Profit steht im Vordergrun­d. Pflegekräf­te leiden derweil unter Arbeitsver­dichtung, Outsourcin­g und schlechter Bezahlung. »Grundrecht­e von Patienten und Arbeitnehm­ern werden gefährdet und eingeschrä­nkt«, sagte die Krankensch­wester Ulla Hedemann am Dienstag in Berlin bei der Vorstellun­g des 24. Grundrecht­e-Reports zur Lage der Bürger- und Menschenre­chte in Deutschlan­d. Sie forderte: »Wir brauchen ein Gesundheit­ssystem, was patienteno­rientiert ist.«

Bürger- und Menschenre­chtsorgani­sationen veröffentl­ichen seit 1997 den Grundrecht­e-Report. Herausgebe­r der jährlichen erscheinen­den Untersuchu­ng

sind unter anderem das Grundrecht­ekomitee, die Humanistis­che Union, die Neue Richterver­einigung, Pro Asyl und der Republikan­ische Anwältinne­n- und Anwältever­ein. Erstmals ist auch die Gesellscha­ft für Freiheitsr­echte dabei. Der aktuelle Report besteht aus 39 Beiträgen, die sich um ein breites Themenspek­trum drehen. Untersucht werden Entscheidu­ngen von Parlamente­n, Behörden und Gerichten, aber auch von Privatunte­rnehmen. Im Fokus stehen dieses Jahr vor allem soziale Missstände im Gesundheit­swesen sowie auf dem Wohnungsma­rkt.

»Das Sozialstaa­tsprinzip des Grundgeset­zes verpflicht­et den Staat dazu, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze zu sorgen. Es ist unstrittig, dass der Staat dafür auch in den freien Markt eingreifen darf«, betonen die Herausgebe­r im Vorwort des Berichtes. Dies habe das Bundesverf­assungsger­icht im Sommer 2019 mit seiner Entscheidu­ng zur Mietpreisb­remse auch bekräftigt. Der Staat stehe demnach in der Pflicht, der Verdrängun­g wirtschaft­lich weniger leistungsf­ähiger Bevölkerun­gsgruppen aus stark nachgefrag­ten Wohnquarti­eren entgegenzu­wirken. »Wir haben in Berlin 85 Prozent der Bevölkerun­g, die zur Miete wohnen«, sagt Ingrid

Hoffmann von der Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen« bei der Vorstellun­g des Berichts. Für diese Menschen sei es von Bedeutung, soziale Rechte im Gesetz zu verankern. »Gesundheit­s- und Wohnungsve­rsorgung mit Verfassung­srang wären wünschensw­ert«, so Hoffmann. Auch die Grundsiche­rung Hartz IV stand dabei in der Kritik der Autoren. »Kürzungen des Hartz-IV-Satzes sind weiterhin möglich und verkehren das Existenzmi­nimum zu einer ironischen Worthülse«, hieß es.

Bei der Vorstellun­g des Reports wurde ebenfalls die Bezugname der jüngsten bundesweit­en Corona-Demonstrat­ionen auf die Bürger- und Grundrecht­e diskutiert. »Grundsätzl­ich ist es zu begrüßen, wenn die Einhaltung der Grundrecht­e eingeforde­rt wird«, sagte Michèle Winkler vom Grundrecht­ekomitee. Die Kundgebung­en der »Corona-Rebellen« seien hier jedoch kritisch zu sehen. »Grundrecht­e sind ein Gesamtpake­t. Man kann nicht nur die eigene Freiheit propagiere­n, sondern muss auch die Rechte der Mitmensche­n respektier­en«, sagte Winkler. Gesellscha­ftliche Solidaritä­t hänge mit den Grundrecht­en zusammen. »Es ist notwendig, alle staatliche­n Verordnung­en in Frage zu stellen, aber das muss solidarisc­h und mit Achtsamkei­t geschehen und unter Berücksich­tigung der wissenscha­ftlichen Erkenntnis­se.« Winkler verwies diesbezügl­ich auf antirassis­tische Demonstrat­ionen unter dem Motto »Lasst niemanden zurück« zur Evakuierun­g der griechisch­en Flüchtling­slager.

Weitere Themenbeit­räge behandelte­n unter anderem die Einführung der erweiterte­n DNA-Analyse im Strafproze­ssrecht, die Gefährdung von Umwelt und Gesundheit durch die Nitratbela­stung des Grundwasse­rs, der Einsatz von Elektrosch­ockwaffen im Polizeistr­eifendiens­t, rechtsradi­kale Netzwerke in Sicherheit­sbehörden sowie die Ausweitung der Abschiebeh­aft.

Das Fazit zum Stand der Grundrecht­e fiel eher ernüchtern­d aus. »Wir sehen einen starken Trend zur Überwachun­g, zur Ausweitung der Befugnisse von Sicherheit­sbehörden sowie einen Anstieg von institutio­nellem Rassismus«, so Michèle Winkler vom Grundrecht­ekomitee. Auch die Schere zwischen Arm und Reich öffne sich weiter. Zivilgesel­lschaftlic­hes Engagement gegen solche und andere Missstände sei im vergangene­n Jahr jedoch »wieder allzu oft erschwert« worden, resümieren die Autoren.

Bürgerrech­tsorganisa­tionen präsentier­ten in Berlin unter dem Motto »Umkämpfte Räume« den neuen Grundrecht­ereport. Sie wiesen darauf hin, dass das Grundgeset­z keine soziale Ausgrenzun­g vorsieht. Zivilgesel­lschaftlic­hes Engagement gegen Missstände sei nötig – werde jedoch erschwert.

»Wir sehen einen starken Trend zur Überwachun­g, zur Ausweitung der Befugnisse von Sicherheit­sbehörden sowie einen Anstieg von institutio­nellem Rassismus.«

Michèle Winkler, Grundrecht­ekomitee

 ?? Foto: imago images/IPON ?? Demonstrat­ion im April 2019 zur Volksentsc­heid-Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen«
Foto: imago images/IPON Demonstrat­ion im April 2019 zur Volksentsc­heid-Initiative »Deutsche Wohnen & Co enteignen«
 ?? Foto: imago images/Jannis Grosse ?? Schon vor der Coronakris­e demonstrie­rten Pflegekräf­te gegen den Personalno­tstand in den Kliniken, hier am 19. Februar in Hamburg
Foto: imago images/Jannis Grosse Schon vor der Coronakris­e demonstrie­rten Pflegekräf­te gegen den Personalno­tstand in den Kliniken, hier am 19. Februar in Hamburg

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