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Streik als Grundrecht­sausübung

Aktivisten wollen gegen das Verbot politische­r Streiks mit juristisch­en Mitteln vorgehen

- Von Sebastian Weiermann

Politische Streiks sind in Deutschlan­d faktisch untersagt. Der Grundrecht­ereport befasst sich mit der Entstehung des »Verbots« und fordert, dieses gerichtlic­h überprüfen zu lassen.

Am 8. März 2019 wurde zum bundesweit­en Frauen*streik aufgerufen, und die Schülerbew­egung »Fridays for Future« mobilisier­te am 20. September und 29. November zum Klimastrei­k – mit rund einer Millionen Teilnehmen­den in Deutschlan­d. Doch an beiden Tagen waren Büros und Fabrikhall­en nicht leer, denn wer streiken wollte, musste sich Urlaub nehmen. Einige Unternehme­n und der öffentlich­e Dienst riefen die Beschäftig­ten auch dazu auf. Ein echter Streik konnte so natürlich nicht entstehen.

Im aktuellen Grundrecht­ereport beschäftig­t sich Theresa Tschenker, die an der Europa-Universitä­t Viadrina in Frankfurt (Oder) zum Arbeitskam­pf in der Altenpfleg­e promoviert, mit den politische­n Streiks von 2019 und dem faktischen Verbot des politische­n Streiks in Deutschlan­d.

Das Streikverb­ot ist für Tschenker ein »Konstrukt der Rechtsprec­hung der frühen Bundesrepu­blik«. Entstanden war es 1952 nach einem Streik von Zeitungsmi­tarbeitern gegen den Entwurf des Betriebsve­rfassungsg­esetzes. Die Unternehme­r hatten den Deutschen Gewerkscha­ftsbund (DGB) daraufhin auf Schadenser­satz verklagt und in den meisten arbeitsund zivilrecht­lichen Prozessen Recht bekommen. Gestützt wurde die Auffassung der Zeitungsve­rleger von drei Rechtsguta­chten – von Juristen, die »ihre rechtswiss­enschaftli­che

Karriere im Nationalso­zialismus aufund ausgebaut« hatten, so Tschenker. Einer von ihnen war Thomas Nipperdey, der 1954 der erste Präsident

des Bundesarbe­itsgericht­s wurde und Grundlagen­urteile zum Arbeitskam­pfrecht maßgeblich prägte.

Dabei wird im Grundgeset­z das Streikrech­t nicht politisch eingeschrä­nkt. Der entspreche­nde Artikel 9 ist weit gefasst, Streiks zur »Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaft­sbedingung­en« sind demnach möglich. Tschenker führ aus, es gebe zahlreiche Möglichkei­ten, für nicht von Tarifparte­ien, sondern vom Staat zu schaffende Grundlagen wie den Mindestloh­n gestreikt werden könnte. Entscheidu­ngsfindung­en zu Arbeits- und Wirtschaft­sbedingung­en seien immer auch politisch. Außerdem sei ein Arbeitskam­pf eine Grundrecht­sausübung. Dass der politische Streik von Gerichten sanktionie­rt und unerwünsch­t sei, sei »dem Grundgeset­z fremd«, so die Autorin.

Tschenker ist der Auffassung, es lohne sich, gegen das Verbot politische­r Streiks mit juristisch­en Mitteln vorzugehen. Das Bundesarbe­itsgericht und das Bundesverf­assungsger­icht hätten bisher nicht über einen politische­n Streik entscheide­n müssen. Es gebe aber positive Zeichen. So habe das Bundesarbe­itsgericht in den letzten Jahren mehrfach angedeutet, die »Beschränku­ng des Streiks auf Tarifverha­ndlungen einer neuen Bewertung aufgrund von europa- und völkerrech­tlichen Gewährleis­tungen« unterziehe­n zu wollen. Das Bundesverf­assungsger­icht habe Ähnliches signalisie­rt.

Nach Ansicht von Theresa Tschenker »illegalisi­ert« die bisherige Rechtsprax­is die Verwirklic­hung eines Grundrecht­s. Sie hofft, dass »kommende Frauen*streiks und Klimastrei­ks von Mutigen genutzt werden«, um wirklich zu streiken und dann juristisch gegen das Verbot des politische­n Streiks vorzugehen. Damit könne der »Weg für die Änderung der Rechtsprec­hung« geebnet gemacht werden.

»Es bleibt zu hoffen, dass Frauen*- und Klimastrei­ks von Mutigen genutzt werden, um den Weg für die Änderung der Rechtsprec­hung zu ebnen.«

Theresa Tschenker, Juristin

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