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Die, nach denen kein Hahn kräht

- Von Stefan Ripplinger

Der Manierist Giuseppe Arcimboldo setzte Porträts aus gemalten Früchten und Gemüsen zusammen. Johannes Beringer, kein Manierist, setzt ein Porträt aus Filmen zusammen. Wie bei Arcimboldo eine Birne für die Nase, zwei Gürkchen für den Schnurrbar­t und Kirschen für die Lippen stehen können, so stehen bei dem Autor Beringer Filme, meist kurze, für eine ungebärdig­e Kindheit und Jugend, für eine politische Adoleszenz und für Krankheit und Tod. Das gesetzte Alter bleibt ausgespart.

Wessen Leben da porträtier­t wird, bleibt offen. Von manchem Film wird er an das eigene erinnert, etwa an die Gegend, in der er aufwuchs, im »Viertel hinter dem Bahnhof«. Und wer weiß, dass Beringer zum revolution­ären ersten Jahrgang der Deutschen Film- und Fernsehaka­demie, Westberlin, gehörte, wird sich nicht darüber wundern, dass in seinem Porträt die Phase des Aufruhrs unter anderem von »Johnson & Co. und der Feldzug gegen die Armut« (1968), der bitterböse­n Fabel seines Kommiliton­en Hartmut Bitomsky, vertreten wird. Beringer hält sich an die Regel des Filmkritik­ers Serge Daney (den er übersetzt hat), »sich nie dorthin zu versetzen, wo man nicht hingehört, und nie zu reden anstelle der anderen«. Er spricht für sich, fühlt sich seinen Filmen nicht nur geistig und geschichtl­ich, sondern auch sinnlich, ja körperlich verbunden. Dennoch sind die »eigenen Angelegenh­eiten«, die hier verhandelt werden, nicht bloß die seinen. Es sind auch die der »Infamen«, von denen Michel Foucault sprach, der Menschen, nach denen kein Hahn kräht.

Wie die Menschen, so die »minoritäre­n« Filme. Zwar treten einige Meister des Kinos auf – Pedro Costa, Marguerite Duras, Josef von Sternberg, Danièle Huillet und Jean-Marie Straub, gleich zweimal Jean-Luc Godard –, aber mit Titeln, die kaum einer kennt. Und der Rest sind Produktion­en von Außenseite­rn, jedoch keine Schocker, sondern leise, widerborst­ige Werke, die, wie der im Band gewürdigte Kritiker André Bazin sagte, eine »Nähe zum Leben und die Resonanz des Sozialen« haben.

Für die Kindheit steht unter anderem Jean-Paul Le Chanois’ »Schule des Lebens« (1949), mit dem noch schlanken Bernard Blier als antiautori­tärem Lehrer. Allerdings wurde seine antiautori­täre Pädagogik der Kommunisti­schen Partei, die erst als Produzenti­n auftrat, bald zu antiautori­tär. Die Unsicherhe­it der Jugend spiegelt sich in »Was machen wir jetzt?« (1958) von Peter Weiss, der auch (vielleicht vor allem) ein begnadeter Filmemache­r war. »Together« (Zusammen; 1956) von Lorenza Mazzetti über ein tragikomis­ches taubstumme­s Paar bewegt ebenso wie ein Besuch der Dichterin Forough Farrokhzad in einer iranischen Leprakolon­ie, »Das Haus ist schwarz« (1962). All diese Puzzleteil­e setzt Johannes Beringer geduldig und genau zusammen. Es sind, um ein von ihm zitiertes Wort des Philosophe­n Jean Louis Schefer abzuwandel­n, Filme, die auf unser Leben schauen. Und ein reiches Leben muss gehabt haben, wer von solchen Filmen angeschaut worden ist.

Johannes Beringer: Minoritäre Filme. Die eigenen Angelegenh­eiten. Edition Offenes Feld, 194 S., geb., mit zahlreiche­n, teils farbigen Abb., 23 €.

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