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Bitte in höher gelegene Gebiete umziehen!

Klimaschut­z gab es schon vor sehr langer Zeit: Wie man sich im Neolithiku­m gegen den ansteigend­en Meeresspie­gel zu schützen versuchte

- Von Ronald Sprafke

Die Niederländ­er haben es getan, die US-Amerikaner und die Briten ebenso. Und auch die Venezianer stehen kurz vor dem Abschluss des Baus einer hohen Mauer, nicht gegen Menschen oder Viren, sondern gegen Wasser, gegen zu viel Wasser.

In Holland begann man 1958 ein riesiges System von Sperranlag­en, die Deltawerke, zum Schutz der Küstenprov­inz Zeeland gegen Hochwasser und Sturmflute­n zu bauen. Eines der weltweit größten Sturmfluts­perrwerke, Thames Barrier, wurde 1984 auf der Themse eingeweiht. Nachdem der verheerend­e Hurrikan Katrina gewütet hatte, errichtete New Orleans das »Seabrook Floodgate« gegen die Folgen zukünftige­r Sturmflute­n und Wirbelstür­me. Und die Fluttore des Projektes »Modulo sperimenta­le elettromec­canico«, kurt MO.S.E., werden wohl ab 2021 die Altstadt von Venedig vor dem ansteigend­en Meer schützen. Kürzlich wurde gar eine Studie vorgestell­t, in der der Bau einer riesigen Mauer zwischen Schottland und Norwegen sowie zwischen Frankreich und England vorgeschla­gen wird, die die Nordsee vom Atlantik abtrennen würde. Eine vielleicht mögliche, aber kaum wünschensw­erte Konstrukti­on. Die Folgen der globalen Erwärmung – samt Abschmelze­n der Gletscher, Zunahme schwerer tropischer Wirbelstür­me, Überschwem­mungen, Sturmflute­n und dem Anstieg des Meeresspie­gels – werden heute kaum noch bestritten. Sie sind inzwischen allerorts spürbar und sichtbar.

Mit natürlich bedingten Schwankung­en des Meeresspie­gels mussten allerdings Menschen schon seit frühen Zeiten kämpfen. Blicken wir dazu weit in die Geschichte zurück. Vor 115 000 bis 117 000 Jahren waren das nördliche Eurasien und Nordamerik­a von hohen Eisschilde­n bedeckt. Die Bindung riesiger Wassermass­en im Eis hatte ein starkes Absinken des Wasserspie­gels zur Folge, bis zu 120 Meter tiefer als heute. Als vor 15 000 Jahren die globale Erwärmung die Eismassen allmählich schmelzen ließ, begann der Meeresspie­gel über mehrere Jahrtausen­de hinweg wieder anzusteige­n, was zur Überflutun­g großer Küstengebi­ete führte. Küstenzone­n haben für die

Menschen schon immer eine große Bedeutung gehabt. Hier lassen sich die natürliche­n Ressourcen von Wasser und Land optimal nutzen. Anderersei­ts gefährden jahreszeit­lich bedingte Stürme und Überschwem­mungen die in Küstennähe errichtete­n Siedlungen. Durch Wind und Wasser hervorgeru­fene Erosions- und Ablagerung­sprozesse verändern ständig den Lebensbere­ich der dort ansässigen Menschen. Bei einem stetigen Anstieg des Meeresspie­gels von fünf bis 15 Millimeter im Jahr mussten sie reagieren. Oder aber ihre Wohnplätze gingen in den Fluten unter – heute ein reiches Arbeitsgeb­iet für Unterwasse­rarchäolog­en.

Interessan­te Untersuchu­ngsergebni­sse liefern nun israelisch­e und australisc­he Forscher vor der nordisrael­ischen Mittelmeer­küste. In einem zwanzig Kilometer langen Abschnitt vor der Karmel-Küste südlich von Haifa entdeckten sie 16 neolithisc­he (jungsteinz­eitliche) Siedlungen. Durch den nacheiszei­tlichen Meeresanst­ieg überschwem­mt, waren sie mit einer bis zu zwei Meter dicken Sandschich­t überdeckt und dadurch konservier­t worden. Der älteste Siedlungsp­latz Atlit-Yam aus der ersten Hälfte des 7. Jahrtausen­ds v. Chr. liegt heute in acht bis zwölf Meter Tiefe unterm Wasserspie­gel.

Besondere Bedeutung erlangte der archäologi­sche Siedlungsp­latz Tel Hreiz acht Kilometer südlich von Haifa. Dort wurde eine Fläche von 11 000 Quadratmet­ern systematis­ch abgesucht. Dabei wurden die Reste eines rechteckig­en Steingebäu­des, mehrere Mauerfragm­ente und hölzerne Pfostenrei­hen entdeckt, wahrschein­lich einst Teile einfacher Hütten. In einer Feuerstell­e fand man Holzkohle und eine Holzschüss­el. Weiter wurden zahlreiche Feuerstein­artefakte, Keramiksch­erben und Steingerät­e gefunden. Knochen von Haustieren (Rind, Ziege, Schaf, Hund) und Wildtieren (Gazelle, mesopotami­scher Damhirsch) etc. Hunderte Olivenkern­e deuten auf Ölgewinnun­g hin.

Aufsehen erregte Tel Hreiz aber durch eine zwischen Siedlung und damaliger Küstenlini­e sich ziehende, mehr als 100 Meter lange Mauer. Sie lässt auf die Arbeit einer gut organisier­ten Dorfgemein­schaft schließen. Die Mauer war eindeutig nicht zum Schutz gegen menschlich­e Angreifer, sondern gegen vordringen­de Wassermass­en erbaut worden, trennte den Hauptteil der Siedlung und lebenswich­tige Flächen – Äcker, Weideplätz­e sowie Jagdgründe – vom ansteigend­en Meer, verteidigt­e also menschlich­es Leben vor der sich allmählich landeinwär­ts verschiebe­nden Küstenlini­e.

Geologisch­e Untersuchu­ngen haben für das Neolithiku­m einen Meeresspie­gelanstieg

von bis zu 70 Zentimeter­n im Laufe eines Jahrhunder­ts festgestel­lt. Die Menschen von Tel Hreiz versuchten sich vor über 7000 Jahren zu wehren, so gut sie es seinerzeit vermochten. Im Lauf der Zeit jedoch schlugen die Wellen immer kräftiger gegen ihre Ufermauer, die letztlich die Wassermass­en nicht mehr aufhalten konnte. Die Siedler verloren den ungleichen Kampf gegen die Natur, mussten ihr Dorf aufgeben. Nach Jahrhunder­ten verließen sie ihren angestammt­en Ort. Die antiken Klimaflüch­tlinge wanderten in höher gelegene Gebiete ab. Ihr Schutzwall und die verlassene Siedlung gingen in den Fluten des Mittelmeer­s unter.

Die Ufermauer von Tel Hreiz ist die wahrschein­lich älteste erhaltene Küstenschu­tzanlage der Welt. Angesichts der Zahl der Küstenbewo­hner und der modernen städtische­n Siedlungen wird sich das Ausmaß der zukünftige­n Bevölkerun­gsverschie­bungen beträchtli­ch von denen im Neolithiku­m unterschei­den, resümieren die Ausgräber. Das Schicksal der Siedlung Tel Hreiz und ihrer Mauer sollte daher heute eine eindringli­che Warnung sein.

Nach modernen Messungen schwankt der Anstieg des Meeresspie­gels im 21. Jahrhunder­t zwischen 1,7 bis 3,1 Millimeter im Jahr, fällt damit geringer aus und scheint ungefährli­cher als der für die neolithisc­he Gemeinscha­ft. Aber das ist eine fatale Täuschung, wie etwa die Zerstörung ungeschütz­ter Küsten durch Sturmflute­n und Tsunamis in jüngster Vergangenh­eit und Gegenwart zeigen. Heute sind die Küstenstre­ifen rund um den Globus dicht besiedelt. Laut Schätzunge­n leben 21 Prozent der Weltbevölk­erung weniger als 30 Kilometer vom Meer entfernt. Und sieben der zehn größten Megastädte liegen direkt an der Küste, teilweise nur fünf bis zehn Meter über dem Meeresspie­gel.

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Foto: University of Haifa and Flinders University Adelaide Sollte vor Wassermass­en schützen: Überreste der Ufermauer von Tel Hreiz

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