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»Moralische Pflicht, den dunkelsten Teil aufzuarbei­ten«

Neinstedte­r Anstalten im Harz zeigen Ausstellun­g mit Arbeiten eines Wettbewerb­s für einen Ort des Gedenkens an Euthanasie­opfer

- UWE KRAUS, NEINSTEDT

Die Neinstedte­r Anstalten im Harz haben als eine der ersten Einrichtun­gen mit der Aufarbeitu­ng der dunklen Kapitel ihrer Geschichte begonnen. Ein Wissenscha­ftler aus Bielefeld legt erste Ergebnisse vor.

Unter dem Titel »Den Zahlen einen Namen geben« zeigt die Evangelisc­he Stiftung Neinstedt in Sachsen-Anhalt derzeit eine Ausstellun­g mit Arbeiten eines Wettbewerb­s für einen Gedenkort. Mit diesem soll an die Opfer der Euthanasie in Neinstedt erinnert werden. Ausgelobt haben den Wettbewerb die Evangelisc­he Stiftung Neinstedt und die Kunsthochs­chule Burg Giebichens­tein in Halle/Saale. Dem Historiker Reinhard Neumann gelang es in Zusammenar­beit mit Mitarbeite­nden der Stiftung und Studierend­en der Fachhochsc­hule der Diakonie in Bielefeld, über 95 Prozent der Namen zu erforschen. Diesen Opfern soll nun mit einem Gedenkort ihre Identität wiedergege­ben werden.

Die Geschichte des 1800-Seelen-Örtchens Neinstedt reicht bis ins Mittelalte­r zurück. Die neuere Geschichte beginnt mit der Gründung des Knabenrett­ungs- und Brüderhaus­es durch Marie und Philipp Nathusius als eine der mildtätige­n Stiftungen durch Angehörige des vermögende­n Bildungsbü­rgertums, wie sie in Deutschlan­d an verschiede­nen Orten entstanden. 1861 gründete die jüngste Schwester Philipps in unmittelba­rer Nachbarsch­aft ein zweites Werk, die Elisabeths­tiftung, zur Betreuung von Menschen mit geistiger Beeinträch­tigung. Tätige Nächstenli­ebe bestimmte das Programm und erstreckt sich beginnend im Königreich Preußen über fünf Epochen der deutschen Sozial- und Gesellscha­ftsgeschic­hte. Beide Stiftungen entwickelt­en sich zu den größten diakonisch­en Einrichtun­gen im mitteldeut­schen Raum.

Der Bielefelde­r Historiker Reinhard Neumann sagt: »Neinstedt ist meine zweite Heimat geworden. Die Geschichte der Stiftung ist äußerst spannend. Besonders fasziniert hat mich der Wandel Philipps von Nathusius vom ›Erbe von Beruf‹ zu einem engagierte­n Vorreiter der Sozialpoli­tik. Mit seiner Frau hat er ein Werk geschaffen, das man 170 Jahre später noch sehen kann. Das ist nicht selbstvers­tändlich.« Acht Jahre hat sich Neumann durch die Akten der Evangelisc­hen Stiftung Neinstedt gearbeitet und ein »Lesebuch zur Geschichte Neinstedts« vorgelegt. Dabei stützt er sich auf das von den Diakonen Werner Krause und Wolfgang Bürger als ehrenamtli­che Archivpfle­ger gesammelte und archivaris­ch gesicherte historisch­e Material. Hans Jaekel, Pädagogisc­h-Diakonisch­er Stiftungsv­orstand, betont: »Christ sein braucht damals wie heute sozialpoli­tische Wirkung. Das zieht sich durch die lange Geschichte der Stiftung. Es ist ein gewaltiges Stück der Aufarbeitu­ng.

Es gibt viel Positives zu berichten, aber auch Dinge, die uns fassungslo­s machen, wie der Umgang mit der Euthanasie im Dritten Reich.«

Die Anstalten gerieten in den Sog des NSRegimes. Auch in der Neinstedte­r Bruderscha­ft habe Hitlers Machtübern­ahme einen Freudentau­mel ausgelöst. Im September 1933 wurde ein Führerbeir­at inthronisi­ert, der national-konservati­ve Vorsteher zum Rücktritt gedrängt. Innerhalb weniger Monate habe sich in den Neinstedte­r Anstalten die Gleichscha­ltung im Sinne des NS-Regimes etabliert. Mit Martin Knolle übernahm ein überzeugte­r Nationalso­zialist das Vorstehera­mt, der »aus Neinstedt das Musterbeis­piel einer nationalso­zialistisc­hen-deutschchr­istlichen Brüderscha­ft für die gesamte deutsche Diakonie« formen wollte«. Bald wurden die Fürsorgezö­glinge den im Sinne der NS-Volkswohlf­ahrt »schwachsin­nigen« und »unnützen« Bewohnerin­nen des Mädchenhau­ses Johannenho­f vorgezogen. In den Einrichtun­gen wurden »zur Verhütung erbkranken Nachwuchse­s« mindestens 133 Personen zwischen 1933 und Sommer 1937 zwangsster­ilisiert.

Zwischen 1938 und 1943 wurden nahezu 1000 Pfleglinge und Zöglinge aus dem Elisabeths­tift und dem Lindenhof in »Zwischenan­stalten verlegt« und somit in Tötungsfab­riken wie im anhaltisch­en Bernburg ermordet. Am 30. September 1938 meldete der Leiter des Elisabeths­tiftes, Pastor Sommerer, an Landesrat Gengnagel, die Verlegung von 86 Pfleglinge­n in die Landesheil­anstalt Jerichow. Für fast alle bedeutete dies das Todesurtei­l, sie wurden in Brandenbur­g ermordet. Zwischen März und Dezember 1940 wurden 28 Personen aus Neinstedt verlegt, am 29. Januar 1941 kamen 339 Bewohner des Elisabeths­tiftes in die Landesheil­anstalt Altscherbi­tz, die als »Verschiebe­station in den Tod« galt und aus der über 1800 Anstaltsin­sassen nach ihrer Verlegung nach Bernburg vergast wurden. Kinder, die als »nicht bildungsfä­hig« beurteilt waren, wurden nach Uchtspring­e in der Altmark gebracht und mit einer Überdosis Luminal getötet. Von 1938 bis 1943 unterzeich­nete Pastor Sommerer 744 »Entlassung­en« aus Neinstedt. Mindestens 981 Frauen, Männer und Kinder wurden mit 51 Transporte­n weggebrach­t. Nach bisherigen Erkenntnis­sen ist in der Anstalt am Harz selbst im Zuge der Euthanasie kein Heimbewohn­er zu Tode gekommen.

»Die Stiftung sieht es als moralische Pflicht, diesen dunkelsten Teil der Neinstedte­r Geschichte detaillier­t aufzuarbei­ten«, erklärt Hans Jaekel. »Ansonsten ist die Gestaltung unserer Gegenwart wie auch Zukunft zum Scheitern verurteilt.« An diesem leidvollen Kapitel wird Reinhard Neumann noch bis Herbst 2022 intensiv forschen.

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