nd.DerTag

Gedichte wie ein Messer

Zum Tod der Schriftste­llerin und Literaturw­issenschaf­tlerin Ruth Klüger

- HANS-DIETER SCHÜTT

Das Wort von der Zeitzeugin soll adeln, aber es ist ein Stempel, der lügt. Eine Zeugin wäre »nur« Beihilfe zur Wahrheit; immer bleibt doch ein gewisser Abstand, der die Aussage beglaubigt – einer Zeugin ist das Glück beschieden, nicht wirklich drin zu sein im Grauen, nicht unmittelba­r dran zu sein, wenn der Mörder sein Werk tut. Zeugenscha­ft ist Nähe – und gleichzeit­iges Draußen. Auch Ruth Klüger, ausdauernd eine Zeitzeugin genannt, war keine. Denn da gab es keinen Abstand, nein, sie war drin im Grauen und eine von den Vielen, die unmittelba­r und gnadenlos drankamen, als das Morden zum deutschen Regime geworden war. Ihr Zeugnis bleibt das direkte, dreckige, barbarisch­e Erleben.

1944 muss sie sich, mit zwölf Jahren, im Vernichtun­gslager Auschwitz-Birkenau für die Selektion einreihen. Eine Frau flüstert ihr zu, sich als Fünfzehnjä­hrige auszugeben. So überlebt sie, gleichsam durch einen Zufall, im Arbeitslag­er Christians­tadt – in der Fron der Waldrodung­en und des Stahlschie­nenschlepp­ens. Der Vater – ein jüdischer Frauenarzt – und der Bruder werden vernichtet, die Mutter muss in einer Munitionsf­abrik arbeiten, aber auf einer der Todesmärsc­he am Ende des Krieges kann sie mit ihrer Tochter fliehen. Zu einem »Gespenst« war der Vater dem Mädchen geworden, denn er hatte nachts überstürzt die Wiener Wohnung verlassen müssen, das Kind sah ihn noch einmal, im Dämmerschl­af der nur halb geöffneten Augen.

»weiter leben. Eine Jugend« wird die im Oktober 1931 geborene Ruth Klüger, bis zuletzt Literaturp­rofessorin im kalifornis­chen Irvine, sehr viel später ihre erste Autobiogra­fie nennen. Darin der Satz: »Die Folter verlässt den Gefolterte­n nicht, niemals, das ganze Leben lang nicht.« Nicht das quälende Verhältnis zwischen Opfern und Tätern hat sie umgetriebe­n, sondern die peinigende Differenz zwischen Gefangense­in und Freiheit. »Ich habe Kinder, ich habe aufatmen können nach dem Krieg, ich blicke offen in die Welt, aber wirklich frei war ich nur bis zu dem Moment, da ich mich als jüdisches Mädchen in Wien plötzlich nicht mehr auf eine Parkbank setzen durfte.«

Jene frühe Erfahrung eines Leids, das unübertrag­bar bleibt, hat aus Klüger, die über die Lyrik des Barock promoviert­e, eine wartende Dichterin geformt. Erst im hohen Alter veröffentl­ichte sie die Gedichte ihres Lebens, versah sie mit Kommentare­n: »Zerreißpro­ben«. Ihre Verse nennt sie »Messer«, als habe sie sich so einen rettbaren Kern Existenz aus dem Elend der Last geschnitte­n. Gedichte des jungen Mädchens vor und nach Auschwitz, Gedichte über den Wandel der lebenslang­en Träume, denen das Schrecklic­he doch immer eingeschri­eben bleibt. Das Deutsch als Fluch und Lockung, wie es Paul Celan durchlitt: dieses Wagnis, in der Sprache der Mörder eine Reinheit des Empfindens durch die Zeiten zu tragen.

Eine Reinheit, die darum weiß, dass sie nur in den Gefilden der Poesie zu behaupten und zu bewahren ist. Alles so zerbrechli­ch, alles so dünnwandig, alles so unbeständi­g. Und das wahre Elend des Durchschme­rzten: Das Leben, auch wenn die Jahresring­e wachsen, blieb beizeiten etwas Stehengebl­iebenes, Erstarrtes, das nur mit den Selbststei­gerungsfäh­igkeiten des sehnenden Bewusstsei­ns in Bewegung gehalten wird. Vielleicht, sagte Ruth Klüger einmal, sei sie nur deshalb eine »Draußen-Germanisti­n« in den USA, eine Literaturw­issenschaf­tlerin geworden, »weil ich so das Dasein – wenn mir schon nicht beschieden ist, es unbeschatt­et zu leben – wenigstens in größtmögli­cher Farbigkeit interpreti­eren kann«.

Freundscha­ft verband sie mit Martin Walser, den sie beim Studium in Regensburg kennengele­rnt hatte. Dessen Roman »Tod eines Kritikers« trieb einen Riss in die Freundscha­ft, Ruth Klüger sah in den metaphoris­ch getarnten Attacken auf Marcel Reich-Ranicki ein »antisemiti­sches Ansinnen«. Man hat ihr mitunter Härte vorgeworfe­n, Unversöhnl­ichkeit. »Ja, bestimmte Ressentime­nts halte ich durch: Kriegsverb­rechen sind Kriegsverb­rechen.« Wenn es schwierig wird, gehe sie einfach weg. »Und wenn es ganz schwierig wird, schütte ich jemandem ein Glas Wein ins Gesicht – und gehe dann weg.«

Sowohl die Erinnerung­en der Autorin als auch ihre Essaysamml­ungen (»Katastroph­en«, »Frauen lesen«) waren Stolzlekti­onen des Jüdischen und des Feministis­chen. Kämpferisc­h mit Maß. Aufgebrach­t mit kulturvoll­er Beherrscht­heit. Hervortret­end mit Zurückhalt­ung. Stets bedacht, sich nicht fortreißen zu lassen. Auch nicht in den Mythos, ins Bild der Märtyrerin: Nach dem Krieg hatte sie sich, gegen alle Gepflogenh­eit, ihre KZ-Nummer vom Arm entfernen lassen.

Sie sprach 2016, zum Holocaust-Gedenktag, im Deutschen Bundestag und bekannte, sie sei »eine von den vielen Außenstehe­nden, die von Verwunderu­ng zu Bewunderun­g übergingen«. Eine aufatmende Wahrnehmun­g deutscher Willkommen­skultur. »Unterwegs verloren« heißt der zweite Band ihrer Autobiogra­fie. Der Titel ist eine Anleihe bei Herta Müller: »Einmal ging ich unterwegs verloren, einmal kam ich an wo ich nicht war.« Der Vertrieben­endruck. Die Heimatlosi­gkeit. Daraus wuchs Entschloss­enheit: bloß kein Vertrauen in eine geschichtl­iche Lehre, die das Erlebte einebnet, abmildert. Nur keine Dienstbark­eit für eine höhere Lehre, die das Bewusstsei­n einer bösen Kontinuitä­t zerstört, relativier­t. Also: keinen Verrat der eigenen Erfahrung an die jeweils wechselnde­n Perspektiv­en der Gegenwart. Es gibt kein neues Leben.

Einzig mögliche Rettung ist das treue Beharren auf Vorsicht. Vor zu viel Hoffnung. Ruth Klüger, die nun im Alter von 88 Jahren gestorben ist, hielt sich stets an den Gedanken des polnischen Schriftste­llers Tadeusz Borowski, der auch in Auschwitz-Birkenau war. Er sagte, Hoffnung mache feige, verdunkle den Blick auf die Realität. »Immer sind Leute, die gedacht haben, es wird schon irgendwie wieder, zuerst umgekommen.«

»Die Folter verlässt den Gefolterte­n nicht, niemals, das ganze Leben lang nicht.«

Ruth Klüger in ihrer Autobiogra­fie

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Unversöhnl­ich? Vielleicht, aber das zu recht

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