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»Mr. Vizepräsid­ent, jetzt rede ich«

Kamala Harris’ Spruch ging nach der US-Wahlkampf-Debatte viral

- JULIA TRIPPO

Es war das Topthema nach dem FernsehDue­ll der US-Vizepräsid­entschafts­kandidat*innen am Mittwochab­end. »Herr Vizepräsid­ent, jetzt rede ich« – Kamala Harris’ einfache Bitte, ausreden zu dürfen. Nichts wurde in den sozialen Netzwerken so intensiv besprochen, wie dieser Moment. Sicherlich, vom Rivalen unterbroch­en zu werden, ist Teil der politische­n Debatten, besonders in der Kultur der USA seit Trump. Auch Harris unterbrach den amtierende­n US-Vizepräsid­enten Mike Pence neun Mal. Ihr wurde aber fast doppelt so oft, ganze 16 Mal, von Pence ins Wort gefallen. Und sie wehrte sich, »ich spreche«. Einige US-Medien bescheinig­ten ihr sogar, mit diesem Satz die Debatte gewonnen zu haben. Dass dieser Spruch mittlerwei­le Trend auf Twitter geworden ist, liegt vor allem daran, dass sich sehr viele Frauen mit Harris’ Situation identifizi­eren konnten. Rein statistisc­h werden besonders Frauen oft unterbroch­en. Beispielsw­eise zeigte eine Studie der George Washington Universitä­t aus dem Jahr 2014, dass in den USA Männer dem Gegenüber zu 33 Prozent öfter ins Wort fallen, wenn es eine Frau ist. Dafür gibt es sogar einen englischen Begriff: Manterrupt­ing, was beschreibt, wenn eine Frau bei einer Konversati­on von einem Mann unterbroch­en wird.

Natürlich kann das ins Wort fallen nicht nur mit dem Aspekt Geschlecht erklärt werden. Aber gelernte Geschlecht­erstereoty­pen und damit verbundene Hierarchie­n in einer patriarcha­l strukturie­rten Gesellscha­ft wirken sich gewiss auf die Kommunikat­ionsmuster aus. Anderen Menschen vermehrt vehement ins Wort zu fallen, ist eine Demonstrat­ion von Dominanz und Macht. Jemand nicht ausspreche­n zu lassen, zeigt in den extremsten Fällen Desinteres­se oder Missbillig­ung der anderen Meinung. Pence wollte mit seinem Verhalten Kontrolle über das Gespräch erlangen und Überlegenh­eit suggeriere­n.

Von der Debatte inspiriert, tauschten sich hinterher viele Zuschaueri­nnen online über ihre Erfahrunge­n aus. »Das ist für jede Frau, die schon mal bei einem Meeting unterbroch­en wurde«, schrieb eine Nutzerin auf Twitter. Viele Frauen zeigten sich ermutigt, wie die Demokratin sich dagegen sträubte, dass ein alter, weißer Mann über ihre Redezeit hinüber walzt. »Wir sollten jungen Mädchen beibringen, zu sagen: ich spreche«, schrieb eine andere Userin. Kamala Harris’ Spruch ist nicht nur jetzt schon Trend in den sozialen Netzwerken und frisches Meme-Material: »I’m speaking« hat auch großes Potenzial, der neuste Aufdruck auf feministis­chen T-Shirts zu werden.

Die Demokratin scheint einen Nerv getroffen zu haben. Sie wehrte sich, sie verteidigt­e ihren Raum und ließ sich nicht von Pence beeindruck­en. Vermehrt machte sie den Vizepräsid­enten auf sein Verhalten aufmerksam: »Wenn Sie mich ausreden lassen, können wir eine Unterhaltu­ng führen.« Trotz allem schaffte sie es, ihrem Kontrahent­en stets ruhig und selbstsich­er zu entgegnen. Wurde die Senatorin unterbroch­en, lächelte sie bestimmt und forderte ihre Redezeit ein. Letztendli­ch bekam Pence drei Minuten mehr Redezeit.

Insgesamt wirkte der gegenseiti­ge Umgang von Harris’ und Pence wesentlich ziviler und respektvol­ler im Vergleich zu der chaotische­n Debatte zwischen Donald Trump und Joe Biden vor einigen Tagen. Auch Biden wurde unterbroch­en, doch seine Reaktion ist ein starker Kontrast: Als Präsident Trump ihm mehrmals aggressiv ins Wort fiel, schnauzte er zurück: »Will you shut up, man« – also: »Kannst du mal die Klappe halten, Mann.«

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