Das Berliner queerfeministische Hausprojekt »Liebig34« wurde mit großem Aufwand geräumt.
Die Polizei betreibt bei der Räumung des Hausprojekts »Liebig34« großen Aufwand.
Was wurden nicht alles für Horrorszenarien im Vorfeld der Räumung des anarcha-queerfeministischen Hausprojekts »Liebig34« in Berlin-Friedrichshain an die Wand gemalt: Tausende gewaltbereite Autonome, extra aus dem Ausland angereist, die die Stadt in Schutt und Asche legen. Szenen wie bei der Räumung der Mainzer Straße im November 1990, als sich Hausbesetzer*innen und Polizei eine dreitägige Straßenschlacht lieferten, wurden heraufbeschworen. Um das zu verhindern, sollten 5000 Polizist*innen den Kiez weiträumig absperren, Kitas und Schulen wurden geschlossen.
Am Ende kam doch alles anders. Sowohl die Nacht vor der Räumung, in der sich rund 500 Menschen unweit des besetzten Hauses versammelten und friedlich ein Hip-HopKonzert anschauten, als auch die Räumung selbst, blieben relativ ruhig. Gegen vier Uhr morgens hatten sich bei der Kundgebung vor dem linksradikalen Hausprojekt »Rigaer94«, nur einen Steinwurf von der »Liebig34« entfernt, bereits 300 Menschen versammelt, die lautstark den Erhalt des seit 30 Jahren bestehenden Hausprojekts forderten. Bis auf einzelne Flaschenwürfe Richtung Polizei blieb es friedlich. Mehrere Kleingruppen sowie ein Fahrradkorso waren im Kiez unterwegs.
Die »Liebig34« hatte zuvor zu dezentralen Aktionen im gesamten Stadtgebiet aufgerufen, die hielten sich allerdings in Grenzen: Im Friedrichshainer Südkiez gab es gegen 6 Uhr morgens eine Spontandemo, einzelne Barrikaden wurden aufgebaut sowie Mülltonnen und zwei Autos angezündet. Auf ein Aufsichtshäuschen am S-Bahnhof Tiergarten verübten Unbekannte einen Brandanschlag und hinterließen den Schriftzug »L34 bleibt«. Ansonsten kam es laut Polizei stadtweit zu kleineren Bränden.
Rund um die »Liebig34« versammelten sich im Laufe des Morgens immer mehr Menschen, laut Polizeisprecher Thilo Cablitz insgesamt 1500. Vereinzelt kam es zu Festnahmen. Statt der angekündigten 5000 waren demnach 1500 Polizist*innen aus acht Bundesländern im Einsatz. Kurz nach dem für 7 Uhr morgens angesetzten Räumungstermin begann die technische Einsatzeinheit mit Trennschleifern, Kettensägen und Hämmern, die Türen und Fenster des verbarrikadierten Hauses aufzubrechen. Es dauerte knapp eine Stunde, bis sich die Polizei Zutritt verschaffen konnte. Stundenlang waren Flex-Geräusche zu hören. Holzlatten, Lampen und andere Hindernisse wurden kurzerhand auf die Straße geworfen, sogar mit Betonelementen sei das Haus verbarrikadiert worden, so Cablitz.
Die Bewohner*innen nahmen das Eindringen der Beamt*innen mit Humor und ließen die Filmmusik von »Spiel mir das Lied vom Tod« über die Boxen laufen. Etage für Etage räumte die Polizei das Haus und trug die Besetzer*innen unter dem Jubel der Demonstrant*innen ins Freie. Insgesamt drei Stunden dauerte es, bis die letzten der mehr als 57 Besetzer*innen draußen waren. Gegen zwei von ihnen wird laut Polizeisprecher nun wegen Widerstand ermittelt. Aus dem Nachbarhaus war der Song der Band Ton Steine Scherben »Der Traum ist aus« zu hören.
Das Wohnprojekt in der Liebigstraße 34 gibt es seit den 1990er Jahren. Ende 2018 war der auf zehn Jahre befristete Pachtvertrag des hauseigenen Vereins »Raduga« mit dem umstrittenen Immobilienspekulanten Gijora Padovicz ausgelaufen. Die Bewohner*innen hielten das Haus seitdem besetzt. Sie halten die Befristung ihres Mietvertrags für unwirksam, da es sich nicht um Gewerbe-, sondern um Wohnraum handle. Vor Gericht scheiterten sie allerdings und erhielten im Juni den Räumungstitel (»nd« berichtete). »Liebig 34«Anwalt Moritz Heusinger legte dagegen Berufung ein. Er argumentiert, dass sich der Räumungstitel gegen den falschen Verein richte, da »Raduga« die Räume 2018 an den Verein »Mittendrin« untervermietet habe.
Dass die Zwangsräumung trotz des laufenden Gerichtsprozesses vollstreckt wurde, wird vom Berliner Mieterverein scharf kritisiert. Anwalt Heusinger, der während der Räumung von der Polizei weder zu seinen Mandant*innen noch zum Gerichtsvollzieher durchgelassen wurde, obwohl ihm das zusteht, sprach am Freitag von Rechtsbruch. »Es ist unrechtmäßig, dass das Urteil gegen ›Raduga‹ ergeht und gegen einen ganz anderen Verein vollstreckt wird«, ist er überzeugt. Er will den Rechtsweg weiter gehen und die Räumung als rechtswidrig anerkennen lassen – auch wenn es dann zu spät ist: »Ich gehe davon aus, dass der Eigentümer das Haus mit Hochgeschwindigkeit entkernen wird.«
Den Einsatz selbst hält Heusinger für »unverhältnismäßig«. Mitten in der Corona-Pandemie, wenn die Infektionszahlen in die Höhe schnellen, sei dieser eine große Gefahr für alle Beteiligten. Er kritisiert zudem, dass seitens des Bezirks keine Vorkehrungen für die Obdachlosigkeit der 40 Bewohner*innen getroffen wurden. »Die Menschen werden einfach auf die Straße gesetzt.«
»50 Menschen werden mitten in der Pandemie obdachlos gemacht«, kritisierte auch der Linke-Abgeordnete Hakan Taş, der seit den frühen Morgenstunden vor Ort war. Seine Partei hatte gefordert, die Räumung wegen Corona auszusetzen. »In dieser Zeit stellt sich die Frage, ob Räumungen überhaupt zulässig sind«, so Taş zu »nd«. Auch er hält den Einsatz mit Blick auf die Kita- und Schulschließungen für »unverhältnismäßig«.
Für die ehemaligen »Liebig34«-Bewohner*innen spielt das keine Rolle mehr. Sie haben zwar vorübergehend eine Unterkunft gefunden, sagte eine Bewohnerin dem »nd«. Wie es weiter geht, ist jedoch unklar. »You can’t evict a Movement« (auf deutsch: Man kann keine Bewegung räumen) schreiben sie zuletzt auf Twitter.
»Die Menschen werden einfach auf die Straße gesetzt.« »Liebig 34«-Anwalt Moritz Heusinger