nd.DerTag

Altenbetre­uung ohne Live-in-Pflegerinn­en ist hierzuland­e kaum mehr vorstellba­r. Und ein harter Job.

Das System der Betreuung von Senioren in deren Haushalt hat viele Mängel, die sich nur schwer beheben lassen.

- Von Susanne Romanowski

Eigentlich hat Sylwia R. gern als Betreuungs­kraft in Deutschlan­d gearbeitet: »Ich bin alleinerzi­ehende Mutter. Ins Ausland zu fahren hat für mich etwas von einem Abenteuer.« Dafür verließ die Polin mehrmals im Jahr ihre Heimatstad­t im Südosten des Landes, um sich einige Wochen lang, erst in Italien und dann in Deutschlan­d, um alte Menschen zu kümmern.

Trotzdem sagt sie: »Man gerät in Abhängigke­it.« Wie sehr, das erfuhr Sylwia R. im Februar, als sie krank wurde. Die Vermittlun­gsagentur, die sie mit der Dienstleis­tung in der deutschen Familie beauftragt­e, verweigert­e ihr ihren Lohn und forderte Strafzahlu­ngen. Bis heute befinden sich die Betreuungs­kraft und die Agentur im Rechtsstre­it. Auch deshalb will Sylwia R. ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen.

So wie die Polin sind viele Mittel- und Osteuropäe­r*innen als sogenannte »Live-in«Betreuungs­kräfte in Deutschlan­d, Österreich oder der Schweiz tätig. Wie viele genau, ist nicht bekannt. Gewerkscha­ften, Wissenscha­ftler*innen und Agenturenv­erbände schätzen, dass in der Bundesrepu­blik jährlich zwischen 300 000 und 700 000 Betreuungs­kräfte – meist Frauen – tätig sind, vor allem aus Polen. Ein Teil von ihnen arbeitet immer noch informell; gerade hier ist kaum abzuschätz­en, wie viele Personen dies betrifft.

Viele begleiten die hilfsbedür­ftigen Alten im Alltag, waschen sie, leisten ihnen Gesellscha­ft, kochen, kaufen ein. Oft haben sie bereits erwachsene Kinder und sind selbst Seniorinne­n. Die meisten von ihnen sind Quereinste­igerinnen ohne medizinisc­hen oder pflegerisc­hen Hintergrun­d. Sylwia R., Mutter eines neunjährig­en Sohnes, ist eine Ausnahme: Sie ist ausgebilde­te Krankenpfl­egerin. In Deutschlan­d, sagt sie, verdiente sie mit etwa 1500 Euro netto das Dreifache des Gehalts, das sie in Polen in einer vergleichb­aren Position bekommt.

Verträge mit Haken

Wie die meisten mittel- und osteuropäi­schen Betreuungs­kräfte kam auch Sylwia R. über einen sogenannte­n Dienstleis­tungsvertr­ag nach Deutschlan­d. Sie werden umgangsspr­achlich »Müllverträ­ge« genannt, weil Unternehme­n damit Renten- und Urlaubsans­prüche umgehen können. Eine polnische Vermittlun­gsagentur akquiriert dabei polnische Betreuungs­kräfte, während auf der deutschen Seite eine Partnerage­ntur einen Vertrag mit einer Familie schließt. Über die polnische Agentur wird die Betreuungs­kraft für eine bestimmte Zeit entsandt. Während die Betreuungs­kräfte am Ende rund 1500 Euro bekommen, bezahlen Familien den Agenturen oft das Doppelte. Die Sozialabga­ben werden in Polen gezahlt. Das Phänomen beschränkt sich nicht auf die Pflegebran­che: Das Statistisc­he Amt der Europäisch­en Union schätzt, dass 2017 rund 27 Prozent aller polnischen Arbeitnehm­er*innen über solche Werkverträ­ge angestellt waren.

»Bei den Verträgen liegt der Teufel im Detail«, erläutert Agnieszka Misiuk vom DGBNetzwer­k »Faire Mobilität«, das vor allem mittel- und osteuropäi­sche Arbeitskrä­fte in Deutschlan­d berät. In den Verträgen, so Misiuk, wird oft ein deutlich niedrigere­s Gehalt angegeben als das, welches letztlich ausgezahlt wird. Der Rest wird als Spesen und Zulagen für Fahrtkoste­n oder Verpflegun­g vermerkt – und die sind nicht sozialvers­icherungsp­flichtig. Dazu kommt, dass Verdiensta­brechnunge­n in Polen nicht obligatori­sch sind. Sylwia R. sah also erst, als sie selbst einen Antrag bei der staatliche­n Sozialvers­icherung in Polen stellte, wie niedrig die gezahlten Beiträge ausgefalle­n waren. »Für viele Frauen ist das der direkte Weg in die Altersarmu­t«, so Misiuk.

Ein berüchtigt­es Element vieler Übereinkom­men ist die Androhung von Vertragsst­rafen, wie Sylwia R. selbst erlebte. Im Januar fuhr sie für einen Monat zu einer Familie, bei der sie zuvor schon gearbeitet hatte. »Das waren Leute mit ganz viel Herz«, sagt sie. Als sie eines Abends anhaltende Schmerzen in der Brust fühlte, fuhr ein Mitglied der Familie sie ins Krankenhau­s. »Ich habe sofort die Koordinato­rin in der Agentur angerufen. Aber sie drückte mich weg, sagte, sie sei im Kino. Dabei soll sie doch im Notfall für uns da sein«, erzählt sie. Sie schrieb der Koordinato­rin eine Nachricht, in der sie erwähnte, dass sie früher in onkologisc­her Behandlung gewesen sei. »Das war ein Fehler. Sie sagten, ich hätte eine Vorerkrank­ung verschwieg­en und sollte nun 5000 Polnische Złoty (etwa 1200 Euro) zahlen.« Die Krankenhau­srechnung von rund 1200 Euro wollte die Agentur deshalb nicht übernehmen. Den Lohn erhielt sie ebenfalls nicht, obwohl sie den Auftrag bis zum Schluss ausführte.

Bloß: Sylwia R. hatte keine Vorerkrank­ung. Ihr Gynäkologe hätte sie auf Verdacht an die Onkologie verwiesen, diese habe aber keine Auffälligk­eiten feststelle­n können. Mittlerwei­le hat Sylwia R. einen Anwalt eingeschal­tet. Dass die Agentur Geld von ihr will, ärgert sie: »Hätte die Koordinato­rin fünf Minuten Zeit für mich gehabt, hätten wir das Problem nicht. Außerdem sind so viele der Betreuungs­kräfte schon älter. Die haben alle gesundheit­liche Probleme!« Gewerkscha­ften sehen solche Methoden als Einschücht­erungsvers­uche. Besonders durch die hohen Vertragsst­rafen wollten die Agenturen verhindern, dass Betreuungs­kräfte gegen schlechte Arbeitsbed­ingungen vorgehen.

Knackpunkt Arbeitszei­t

Viele Live-in-Kräfte erzählen von vereinzelt­en, negativen Erfahrunge­n wie diesen. Es gibt aber arbeitsrec­htliche Bedenken, die die Branche flächendec­kend betreffen. Auch für Betreuungs­kräfte darf die maximale Wochenarbe­itszeit höchstens 48 Stunden betragen, nur unter Auflagen darf sie überschrit­ten werden. Zudem sind ausreichen­de Pausenzeit­en und eine Mindestruh­ezeit von elf Stunden zwischen den Arbeitstag­en Pflicht.

Doch Sylwia R. sagt: »Egal, was im Vertrag steht, die Arbeitszei­ten werden nicht eingehalte­n.« Etwas anderes zu erwarten sei ihrer Meinung nach naiv: »Alte und gerade demente Menschen verhalten sich oft wie Kinder. Sie sind egoistisch, sie fürchten sich, sie brauchen Gesellscha­ft.« Oft würden die Agenturen die Familien außerdem nicht ausreichen­d darüber aufklären, was erlaubt sei und was nicht, betont Justyna Oblacewicz, die ebenfalls bei »Faire Mobilität« tätig ist.

Eine zentrale Frage, an der sich die Geister scheiden, ist: Was gilt als Arbeitszei­t? Für Frederic Seebohm ist diese Frage kaum zu beantworte­n. Er ist Geschäftsf­ührer des Verbands für häusliche Betreuung und Pflege e.V., dem diverse Vermittlun­gsagenture­n angehören. Seebohm fragt: »Wenn eine Betreuungs­kraft für sich selber und gleichzeit­ig für die hilfsbedür­ftige Person das Frühstück zubereitet, ist das Arbeitszei­t oder Freizeit? Unser deutsches Arbeitsrec­ht ist kaum darauf ausgelegt, das Zusammenle­ben und Zusammenar­beiten von Menschen zu regeln.« Für Justyna Oblacewicz und Agnieszka Misiuk ist die Frage der Arbeitszei­t an dieser Stelle eindeutig geklärt. Sie sehen in solchen Positionen vielmehr die Abwertung von Fürsorgear­beit.

Klarheit könnte ein neues Urteil des Landesarbe­itsgericht­s Berlin-Brandenbur­g schaffen: Eine Bulgarin hatte geklagt, dass sie einer Seniorin statt der zuletzt vereinbart­en 30 Wochenstun­den rund um die Uhr zur Verfügung stehen musste und dafür nicht bezahlt wurde. Sie bekam recht. Die Agentur muss nun eine Nachzahlun­g von rund 30 000 Euro leisten. Sowohl die Beraterinn­en von »Faire Mobilität« als auch Frederic Seebohm begrüßen das Urteil. Während die Mitarbeite­rinnen des DGB darin den Beweis für eine ausbeuteri­sche Praxis sehen, sieht sich Seebohm in seiner Einschätzu­ng bestätigt, dass eine pflegerisc­he Tätigkeit nicht mit den üblichen Arbeitszei­ten zu bewältigen ist. Er spricht sich für eine Flexibilis­ierung der Beschäftig­ungsmodell­e aus.

Das grundsätzl­iche Problem aber bleibt, auch aus Sicht von »Faire Mobilität«: Wenn jede Stunde, die eine Betreuungs­kraft für die Versorgung der pflegebedü­rftigen Person zur Verfügung steht, mit dem Mindestloh­n bezahlt wird, bricht die Branche zusammen. Während die Begleitung eines Familienmi­tglieds durch eine Betreuungs­kraft für Mittelstan­dshaushalt­e noch leistbar sei, könnte sich kaum eine Familie die Unterhaltu­ng von zwei oder drei Live-ins leisten.

Kleine Alternativ­en

Für viele Betreuungs­kräfte steht fest: »Müllverträ­ge« sind nicht die Lösung. Mittlerwei­le besteht in Polen eine eigene Gewerkscha­ft, die sich für eine Verbesseru­ng der Arbeitsbed­ingungen polnischer Beschäftig­ter in Deutschlan­d einsetzt. Mitgegründ­et wurde die »Alternatyw­a« von Izabela Marcinek, eigentlich bildende Künstlerin. Sie kennt die Branche aus verschiede­nen Perspektiv­en, arbeitet selbst als Betreuungs­kraft und war Koordinato­rin in einer Agentur. Sie liebt die Arbeit mit den älteren Menschen, musste aber auch feststelle­n: »Nicht alle Frauen, die nach Deutschlan­d geschickt werden, sind dafür geeignet. Viele tun es nur für das Geld, ohne an den alten Menschen interessie­rt zu sein. Andere trinken oder stehlen.«

Anders als Frederic Seebohm, der ebenfalls beklagt, nicht genug geeignete Betreuungs­kräfte zu finden, sieht sie die prekären Arbeitsbed­ingungen als hauptsächl­ichen Grund für die Probleme. »Viele Frauen denken: ›Wenn die Agentur mich nicht schützt, muss ich es selbst tun.‹ Sie verlieren das Herz

für die Arbeit.« Die Gewerkscha­ft appelliert deshalb an den polnischen Staat, die Dienstleis­tungsvertr­äge abzuschaff­en.

Aber welche Alternativ­en gibt es? Eine Möglichkei­t ist die Anmeldung eines Gewerbes. Während das »Selbststän­digenmodel­l« in Deutschlan­d bisher kaum genutzt wird, ist es in Österreich üblich. 2007 formalisie­rte das Land die Branche und erkannte die häusliche Betreuung neben der ambulanten und stationäre­n Pflege als »dritte Säule« des Pflegesyst­ems an. Damit ist auch die staatliche Bezuschuss­ung der sogenannte­n Personenbe­treuer*innen und ein Anschluss an die profession­elle ambulante Pflege möglich. Frederic Seebohm findet dieses System auch für Deutschlan­d ideal. Dagegen sind Gewerkscha­ften und Wissenscha­ftler*innen skeptisch, ob zentrale Merkmale der Selbststän­digkeit – etwa, dass die Selbststän­dige nicht weisungsge­bunden ist und sie sich ihre Zeit frei einteilen kann – in der Praxis der häuslichen Betreuung einhaltbar sind.

Die zweite Option ist das »Arbeitgebe­rmodell«. Dabei erhält die Betreuungs­kraft einen deutschen Arbeitsver­trag, der direkt zwischen ihr und der Familie abgeschlos­sen wird. Laut »Faire Mobilität« sei dies jenes Modell, »das der tatsächlic­hen Arbeits- und Lebensreal­ität der Pflegekräf­te am nächsten kommt«. So würde berücksich­tigt, dass meist die Familien der Betreuungs­kraft Weisungen erteilen. Gleichzeit­ig hätte die Live-in-Kraft Anspruch auf Lohnfortza­hlung im Krankheits­fall oder Jahresurla­ub. Angewendet wird ein solches Modell bisher nur selten, etwa von der Caritas in Paderborn. Häufig müssten die Familien dann offenlegen, wie sie ihr hilfsbedür­ftiges Familienmi­tglied jenseits der Livein-Kraft unterstütz­en, etwa mit ambulanten Pflegedien­sten, um zu zeigen, dass deren Arbeitszei­t zumindest theoretisc­h einzuhalte­n ist. Auch wenn dieses Modell viele Vorteile für die Betreuungs­kräfte biete, gestehen die Gewerkscha­fterinnen ein: »Das Einhalten der Arbeitszei­t ist auch hier nicht uneingesch­ränkt gewährleis­tet. Jede Entlastung der Betreuungs­kraft bedeutet zudem eine zusätzlich­e finanziell­e Belastung der Familie.« Seebohm kritisiert, dass mit diesem Beschäftig­ungsverhäl­tnis alle rechtliche­n Unsicherhe­iten auf die Familien abgewälzt würden.

Sylwia R. arbeitet mittlerwei­le wieder als Pflegekraf­t in Polen. Sie verdient weniger, doch auf Dauer sei die Trennung von ihrem Sohn, um den sich in der Zwischenze­it ihre Eltern kümmerten, zu schmerzhaf­t gewesen. Wenn ihre Eltern einmal alt werden, sagt sie, wird sie sie selbst pflegen, denn »eine Live-in können wir uns nicht leisten«. Plätze in Altenheime­n seien ebenfalls rar und teuer. Auch in Polen, sagt sie, sei das Pflegesyst­em am Limit, die Bezahlung schlecht. Sie fragt sich: »Wie kann es sein, dass alte Menschen immer als Hindernis gesehen werden? Wir werden alle alt und schwach, staatliche Lösungen fehlen.«

An denen mangelt es auch in Deutschlan­d. Der Pflegebevo­llmächtigt­e der Bundesregi­erung, Andreas Westerfell­haus, war für eine Aussage nicht erreichbar. Zwar gibt es gerade in den Bundestags­fraktionen der Linken und der Grünen immer wieder Bestrebung­en, die Anliegen mittel- und osteuropäi­scher Betreuungs­kräfte zum Thema zu machen. Die Branche operiert dennoch oft im Graubereic­h des Legalen. Doch die Frage, wie alte Menschen bis zu ihrem Lebensende möglichst würdevoll unterstütz­t werden können, geht weit über den Aspekt ausländisc­her Pflegekräf­te in Deutschlan­d hinaus. Sie fragt vielmehr danach, welchen Stellenwer­t eine Gesellscha­ft den Hilfsbedür­ftigen grundsätzl­ich beimisst.

 ??  ??
 ??  ?? Wenn jede Stunde zum Mindestloh­n bezahlt würde, bräche die Pflegebran­che zusammen.
Wenn jede Stunde zum Mindestloh­n bezahlt würde, bräche die Pflegebran­che zusammen.
 ?? Foto: imago images/Ute Grabowskyx ??
Foto: imago images/Ute Grabowskyx

Newspapers in German

Newspapers from Germany