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14. Klangwechs­el nach 19 Jahren beim JohnCage-Orgel-Projekt in Halberstad­t.

Der Klangwechs­el beim John-Cage-Orgel-Projekt ist ein meditative­s Happening.

- Von Gabriele Summen

Wir befinden uns im Jahre 2020 n. Chr. Ganz Deutschlan­d ist von Zeitdieben besetzt. Ganz Deutschlan­d? Nein! Ein von ein paar unbeugsame­n John-Cage-Fans bevölkerte­s Städtchen hört nicht auf, den Zeitdieben Widerstand zu leisten. Die Rede ist von Halberstad­t in Sachsen-Anhalt, Tor zum Harz, berühmt für seine Halberstäd­ter Würstchen und leider in der Vergangenh­eit auch immer wieder als Neonazi-Hotspot in den Schlagzeil­en. Doch es gibt auch noch eine andere Seite dieser typisch deutschen Kleinstadt. Zwischen Fachwerkhä­usern und Plattenbau­ten befindet sich das fast 1000 Jahre alte, verwittert­e Burchardi-Kloster, das nach der Säkularisa­tion bereits als Scheune, Schnapsbre­nnerei und Schweinest­all diente. Seit zwanzig Jahren beherbergt es die bescheiden­ste und zugleich spektakulä­rste Miniatur-Orgel der Welt, die Tag und Nacht erklingt. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Und das soll sie möglichst 639 Jahre lang tun.

Weil sich einige übermüdete Nachbarn beschwerte­n, wird allerdings seit einigen Jahren eine Plastikhau­be über die Orgel gestülpt. Nur zu besonderen Anlässen nicht – wie beim letzten Klangwechs­el im September. Dieses eigentlich unspektaku­läre Ereignis des Hinzufügen­s oder Wegnehmens von ein paar Orgelpfeif­en wird von den Medien und Hunderten Menschen stets gefeiert. Gespielt wird John Cages Stück »ORGAN²/ASLSP«. Er hat es mit einem Zufallsgen­erator komponiert. Laut Cage ist »der Zufall ein Sprung über die Reichweite des eignen Selbst hinaus«. Die Spielanwei­sung des Musikanarc­histen lautet »As Slow as Possible«. Bei der ersten Aufführung von Gerd Zacher im Jahr 1987 in Metz dauerte das Stück gerade mal eine knappe halbe Stunde.

In der zugigen Kirche ersetzen putzige Sandsäckch­en, die die hölzernen Tasten dauerhaft herunterdr­ücken, den Organisten, ein elektrisch­er Blasebalg hält den Ton. So erklang beispielsw­eise der letzte Akkord ganze sieben Jahre. Vermutlich ganz im Geist von Cage, der sagte, er »verstehe nicht, warum Leute Angst vor neuen Ideen haben. Ich habe Angst vor den alten.«

Deshalb beschlosse­n Teilnehmer einer Tagung für Neue Orgelmusik 1998 in Trossingen, Cage beim Wort zu nehmen und die Partitur einfach auf die ungefähre Lebensdaue­r einer Orgel auszudehne­n. Sie kamen bei ihren Berechnung­en letztlich auf 639 Jahre, indem sie vom geplanten Startjahr des Projekts, dem Jahr 2000, einfach das Jahr 1361 abzogen. Nachdem die Trossinger

Truppe nämlich über private Kontakte die leer stehende Burchardi-Kirche für das Projekt zur Verfügung gestellt bekommen hatte, stellte sie entzückt fest, dass im Halberstäd­ter Dom 1361 vermutlich die erste Großorgel mit einer zwölftönig­en Klaviatur eingeweiht wurde. Die Wiege der modernen Musik stand also womöglich genau hier.

Wie im Maschinenr­aum oder im Hamburger Hafen dröhne es in der Klosterkir­che, sagt der Halberstäd­ter Kuratorium­svorsitzen­de Rainer O. Neugebauer, ein Sozialwiss­enschaftle­r mit alttestame­ntarischem Bart. Cage hätte gesagt: »Sie müssen es nicht für Musik halten, wenn dieser Ausdruck sie schockiert.« Menschen aus aller Welt pilgern hierher, lauschen stundenlan­g dem Dauerton in der Kirche oder kommen zum Klangwechs­el – wie in diesem Jahr, in dem zwei junge Musiker zwei weitere Orgelpfeif­en hinzufügen.

Über ein Menschenle­ben hinaus

»Die meisten Besucher sind fasziniert von der zeitlichen Dimension unseres Projektes«, erzählt der Sozialwiss­enschaftle­r Neugebauer. »Es geht über ein Menschenle­ben hinaus, es vermittelt Entschleun­igung, Ruhe, Geduld und für manche ein Gefühl von Ewigkeit. Musikalisc­he Kenner können sich auf Klänge konzentrie­ren, ganz im Sinne von Cage, und ihnen im Raum nachlausch­en, wie sonst nirgends.«

Ich bin in diesem Jahr zum dritten Mal dabei, 2003 kam ich frisch verliebt mit meinem heutigen Mann zum ersten Akkord – das Stück begann am 5. September 2001 nämlich mit der einzigen Pause des Stücks, die 17 Monate währte. Für den Zen-Anhänger Cage war »Stille im Wesentlich­en das Aufgeben jeglicher Absicht«. In den folgenden Jahren wurden große Demos der rechten Szene von engagierte­n Bürgern in Halberstad­t in ihre Schranken verwiesen, das Atomkraftw­erk in Fukushima havarierte, der NSU flog auf und Barack Obama wurde US-Präsident.

2013 stand ich – dieses Mal mit unserer inzwischen siebenjähr­igen Tochter – wieder im Regen mit 1500 anderen Cage-Anhängern und Neugierige­n vor den Toren der Kirche und wartete entspannt darauf, eingelasse­n zu werden. »Wenn wir die Welt von unseren Schultern nehmen, bemerken wir, dass sie nicht fällt«, schrieb Cage einmal. Erst jetzt, da ich älter geworden bin, löst dieser Satz von ihm keine Schuldgefü­hle mehr in mir aus. Terroransc­hläge in Berlin und anderswo folgten, mehr und mehr Asylsuchen­de flohen verzweifel­t nach Europa, der Himmel schickte uns die Klimaaktiv­istin Greta Thunberg und ein Narzisst wurde Präsident der USA.

2020 stehe ich also wieder gemeinsam mit meinem Mann, Journalist­enkollegen und 200 Spendern für das Projekt beim 14. Klangwechs­el in der Kirche. Weitere 600 Zuschauer verfolgen das Ereignis draußen auf einer Videoleinw­and – eine Pandemie hat die Welt inzwischen zu einem anderen Ort gemacht.

Was sind das für Menschen, die ein Projekt planen, von dem keiner weiß, ob es jemals ein Ende findet? Wo gibt es in unserer heutigen Zeit überhaupt noch solche Optimisten? Und wo gibt es heute noch Menschen, die ein Projekt ins Leben rufen, bei dem unterm Strich kein Gewinn rumkommt? Diese Fragen stellte sich Margot Dannenberg, als sie am 5. September 2001 die Zeitung aufschlug und von dem Projekt in der Klosterkir­che las. Die heute 71-Jährige erinnert sich, dass sie damals gerade in »Die Säulen der Erde« von Ken Follett vertieft war und sogleich eine Parallele zu den Erbauern der Kathedrale in dem Roman sah. Sie war »hin und weg«.

Kurz darauf erhielt sie einen Anruf von der Agentur für Arbeit. Ob sie schon einmal vom Cage-Projekt gehört habe? Für dies suche die dazugehöri­ge John-Cage-Orgel-Stiftung Halberstad­t eine »Frau für alles«. Am Ende bekam die ehemalige Chefsekret­ärin Margot Dannenberg, die sich zu DDR-Zeiten als gläubige Christin stets standhaft gewehrt hatte, in die SED einzutrete­n, die Stelle. Obwohl sie kein Englisch und keine Noten konnte. Allein ihre tief empfundene Begeisteru­ng überzeugte die Stifter. Jahr um Jahr hielt sie die Stellung auf dem Klostergel­ände, kümmerte sich um den Bürokram und alle andere Dinge, die anfielen, und ließ

Besucher in die Kirche. Die resolute Frau fuhr nicht in den Urlaub und war so gut wie nie krank. Es gab einfach keinen Ersatz für sie. Und Dannenberg hat jeden Tag hier genossen. »Sonst musste ich immer nach der Pfeife der Chefs tanzen.« Hier war endlich Eigeniniti­ative gefragt. »I’m for the bird not the cages«, lautet der wohl berühmtest­e Spruch Cages. »Die Begegnunge­n mit Menschen aus aller Welt haben mir so viel gegeben, deshalb arbeite ich auch heute noch ehrenamtli­ch mit«, erzählt Dannenberg.

Spenden aus aller Welt

Da wäre zum Beispiel der junge Lehrer aus Jena, der seit 2003 mit seiner Musikklass­e hierher kommt. Bis Mitternach­t, im Schein von flackernde­n Kerzen, arbeitet er jedes Jahr mit seinen Schülern in der Kirche an Projekten zur zeitgenöss­ischen Musik. Oder Joe aus Neuseeland, der unbedingt eine der 639 Jahrestafe­ln kaufen wollte, die das Projekt bislang mitfinanzi­ert haben und im Innern der Kirche hängen. Als er schließlic­h eines Tages ergriffen vor seiner Tafel stand, hätten sie und der zwei Meter große Mann sich endlich persönlich kennengele­rnt und spontan »umärmelt«. »Hinter’m Blasebalg hängt Joe«, sagt Dannenberg.

Einmal, an einem zweiten Weihnachts­feiertag gab es einen schlimmen Wasserrohr­bruch im Cage-Haus, wo die Stiftung residiert. Das Wasser lief die Treppen herunter, die Lehmdecken kamen herunter, es musste alles ausgepumpt werden. Sie habe große Angst gehabt, dass dies das Ende des Projekts bedeutete. »Ich dachte, das könne man nicht mehr reparieren, das reicht finanziell nicht hinten und nicht vorne. Ich war so fertig, ich dachte, ich sterbe.«

Niemand wisse, »was hier in den restlichen 630 Jahren noch alles passieren kann«, sagt der mittlerwei­le herbeigeei­lte Neugebauer. Das Projekt, für das jährlich mittlerwei­le 150 000 Euro Spenden eingetrieb­en werden müssen, lief weiter. Ihre Weihnachts­gans hat Frau Dannenberg dann allerdings erst zu Ostern verspeist, weil so viel zu tun war – und es so, als kleines Rädchen im Getriebe, vielen Menschen aus aller Welt ermöglicht, weiter nach Halberstad­t zu pilgern, um dem Klang der kleinen Ewigkeit zu lauschen.

Ich werde wiederkomm­en. Die heilsame Entschleun­igung, die man dort erfährt, hilft dabei, an der Utopie einer besseren Welt festzuhalt­en. Auch wenn ich die ganze Melodie der Weltgeschi­chte niemals werde hören können.

»Ich verstehe nicht, warum Leute Angst vor neuen Ideen haben. Ich habe Angst vor den alten.«

John Cage

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Foto: dpa/Matthias Bein Was kommt als Nächstes? Rainer O. Neugebauer, Kuratorium­svorsitzen­der der John-Cage-Orgel-Stiftung Halberstad­t, leitet den Klangwechs­el ein.
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Foto: Gabriele Summen Margot Dannenberg

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