nd.DerTag

Verlass dich – und du bist verlassen

- Stephan Fischer

Zu Beginn dieses Herbstes geraten zwei Orte des Widerstand­s und auch der Widerspens­tigkeit gegen Kapitalint­eressen Richtungen in den Blick. Während Gorleben sich nach mehr als 40 Jahren erfolgreic­h aus dem Endlagersu­chstuhltan­z – und raus bist du! – verabschie­det hat, sind die letzten Bewohner des Hausprojek­ts »Liebig34« in Berlin-Friedrichs­hain bei Erscheinen dieser Ausgabe auch raus – unfreiwill­ig und geräumt. Und raus seid ihr. Natürlich sind beide Vorgänge sehr unterschie­dlich, haben ihre ganz eigene erzählte und auch noch zu erzählende Geschichte. Aber eins eint beide: die Erkenntnis, sich nicht auf die Ewigkeit politische­r Vereinbaru­ngen verlassen zu können – aber auch die, dass der Tag in der tiefsten Nacht eben auch am nächsten sein kann.

Die Gegend um Gorleben war in den 1970er-Jahren der abgelegene Rand des östlichen Zipfels der sogenannte­n freien Welt. Mehr Rand ging nicht, selbst die Förderung als Zonenrandg­ebiet änderte daran kaum etwas. Es gab höchstens ganz viel Gegend, aber Widerstand? In West-Berlin, ja, da ging dagegen was – finanziell gut abgefedert als »Schaufenst­er des Westens«, blieb trotzdem Freiraum. Auch besetzter, selbst wenn dieser hart politisch und polizeilic­h bekämpft wurde – man erinnere sich an Rechtsauße­ninnensena­tor Lummer oder die Berliner Linie, nach der Häuser spätestens 24 Stunden nach Besetzung zu räumen waren. Und in Gorleben wuchs der Protest gegen die Castortran­sporte: Wenn man sie schon nicht verhindern konnte, musste man sie politisch dermaßen teuer machen, dass sie sich nicht mehr durchsetze­n lassen würden. Eine Strategie, die unter dem Begriff »Tag X« auch heute noch von Hausbesetz­ern angewendet wird.

1989/90 änderte vieles entscheide­nd, was erst 30 Jahre später offenbar wurde. Mit der Landkarten­verschiebu­ng der Deutschen Einheit war Gorleben als Endlagerst­andort faktisch tot, auch wenn die Politik dieses verreckte Pferd noch Jahrzehnte weiter ritt. In Berlin brach ein SPD-AL-Senat nach der bürgerkrie­gsähnliche­n Räumung der Mainzer Straße, nur einen Steinwurf von der Liebigstra­ße entfernt, im November 1990 auseinande­r. Danach wurden Verträge und Vereinbaru­ngen zwischen Land, Bezirken und anderen Besetzern geschlosse­n – der politische Preis weiterer Räumungen war zu hoch.

Nur ist den Besetzern inzwischen der Vertragspa­rtner abhanden gekommen: Bezirken und Stadt gehört nach dem Immobilien­roulette der letzten Jahrzehnte kaum noch ein Haus – und die neuen Eigentümer fühlen sich an damalige politische Vereinbaru­ngen nicht im Geringsten gebunden. Wer Freiraum behalten will, muss dort Wurzeln schlagen – kulturell und ja, vielleicht auch rechtlich abgesicher­t. Auf die Politik sollte man sich nicht verlassen – sonst ist man schnell verlassen.

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