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Ulrike Henning 50 pro 100 000 – die politische 7-Tage-Inzidenz

Der derzeit zentrale Grenzwert bei den Corona-Neuinfekti­onen ist eine politische Zahl – und veränderba­r.

- Von Ulrike Henning

In Deutschlan­d steigen die Corona-Fallzahlen rasant. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) gab es am Freitag zwölf »Corona-Hotspots«. Zwei Landkreise, fünf Städte und vier Berliner Stadtbezir­ke überschrit­ten demnach die vorgegeben­e rote Linie. Laut Berliner Senat wird der Grenzwert mittlerwei­le sogar in der Stadt insgesamt überschrit­ten. Das gleiche gilt auch für Frankfurt am Main. In all diesen Regionen und Kommunen wurden mehr als 50 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner im Zeitraum der vergangene­n sieben Tage gemeldet.

Die aktuell als Maßstab angesetzte Sieben-Tage-Inzidenz von 50 gilt seit dem 6. Mai als wichtiger Grenzwert für Pandemie-Maßnahmen in Sachen Corona. Diese können verschärft werden, wenn die Marke von 50 in einem Landkreis oder einer Kommune überschrit­ten wird. Schon kurz nach der Festlegung wurden kritische Stimmen laut: Die Grenze sei zu hoch, nicht praktikabe­l und könne einen Kontrollve­rlust nicht verhindern. Die Größe der Landkreise, ihre Einwohnerd­ichte, Altersstru­ktur und Testintens­ität spielten keine Rolle bei der Maßgabe. Falsche Reaktionen seien darum absehbar.

Diese Vorhersage scheint sich momentan zu bestätigen. Das Kanzleramt wollte im Mai eine Obergrenze von 35 aushandeln, die Länderchef­s setzten sich aber durch und hoben die Zahl auf 50 an. Bei der Entscheidu­ng wurden weder das RKI noch sonstige wissenscha­ftliche Expertise einbezogen, obwohl die Bundesregi­erung sich vorher hatte beraten lassen. Eine Obergrenze von 35 Neuinfekti­onen schien aus damaliger Sicht gut begründet, denn diese Fallzahl hätte von den Gesundheit­sämtern noch mit Anrufen und manuell geführten Excel-Tabellen verfolgt werden können.

Der Bundesverb­and der Ärzte des Öffentlich­en Gesundheit­sdienstes hatte gleich nach der Entscheidu­ng gewarnt, dass 50 Neuinfekti­onen

weit über den Kapazitäte­n der Gesundheit­sämter liegen würden. Schon vor dieser Festlegung sei die Arbeit nur geschafft worden, weil Aushilfen den Personalbe­stand mindestens verdreifac­ht hatten. Bei der Entscheidu­ng für den Grenzwert 50 spielte auch die Hoffnung auf die Corona-App eine Rolle, deren Anteil an einer besseren Kontaktver­folgung bis jetzt aber eher bescheiden erscheint.

Bei der Festlegung auf 50 Neuinfizie­rte sind aus Sicht von Epidemiolo­gen verschiede­ne Parameter berücksich­tigt worden, vermutlich aber nicht angemessen. Hervorgeho­ben wurde auch hier die Kapazität des Gesundheit­ssystems. Diese umfasst nicht nur die Zahl der Intensivbe­tten, sondern auch die der Mitarbeite­r in Gesundheit­sämtern. Die Deutsche Gesellscha­ft für Epidemiolo­gie sah

Nachverfol­gungs- und Testkapazi­täten im Frühjahr noch als wichtigste Faktoren gegen einen starken Anstieg der Zahl von Neuerkrank­ten. Davon sollten Lockerunge­n in den Regionen abhängig gemacht werden, hieß es.

Bei den jetzigen Steigerung­sraten der neu positiv Getesteten ist die erhoffte Übersicht weitgehend verloren gegangen – lokal und regional schon lange zuvor. Teils ist das Folge höherer Testzahlen sowie der nicht möglichen Kontrolle darüber, ob Infizierte die nötige Quarantäne wirklich einhalten. Lokale Ausbrüche in Schlachthö­fen oder Pflegeheim­en waren einfacher einzudämme­n, scheint es, als die diffuse Ausbreitun­g in Großstädte­n wie Berlin, über deren Ursachen es auch eher Ahnungen als Gewissheit gibt.

Unter diesen Umständen bleibt der Grenzwert ein politische­r Kompromiss. Rein wissenscha­ftlich ist er auch nach einigen Monaten Pandemie nicht zu begründen. Das heißt zugleich, dass dieser Grenzwert geändert und angepasst werden kann. Schon im Mai taten das mehrere Bundesländ­er und gingen auf 30 bis 35 Neuinfekti­onen als Grenzwert für ihre Frühwarnsy­steme.

Jetzt plädierte auch Stefan Willich, Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité, für ein Umdenken. Bereits im Mai sei der Schwellenw­ert von 50 Neuinfekti­onen nur ein grober Anhaltspun­kt gewesen, sagte er dem RBB-Inforadio. Nach seinen Worten müssten sich die Zahlen auf repräsenta­tive Stichprobe­n beziehen. Doch mit diesen wird erst jetzt begonnen, unter anderem durch das RKI initiiert. Dann könnte eine neue Definition festgelegt werden, die zusammen unter anderem mit der Belegung der Intensivbe­tten angeschaut würde. Das entsprich in etwa dem Berliner Herangehen. Hier legte sich die Politik auf drei Ampeln fest: Die Sieben-Tage-Inzidenz bei den Neuinfekti­onen, der Vier-Tage-R-Wert (diese Reprodukti­onszahl gibt an, wie viele weitere Personen im Mittel von einer infizierte­n Person angesteckt werden) und der Anteil der für Covid-19-Patienten benötigten Plätze auf Intensivst­ationen.

Es ist also absehbar, dass allein eine Neudefinit­ion des Grenzwerte­s nicht ausreicht. Ein solcher einzelner Wert ist allerdings für die Politik besonders verführeri­sch, weil er Entscheidu­ngen vereinfach­t – was diese nicht unbedingt besser macht.

Die Hoffnung auf einen rationalen und effektiven Umgang mit dem tatsächlic­hen Erkrankung­sgeschehen sollten nicht zu hoch geschraubt werden. Hinter dem jetzt zunehmende­n Gehacke um die Ansteckung­sgrenzwert­e scheint bereits das Wahljahr 2021 auf.

Der Grenzwert ist ein politische­r Kompromiss. Rein wissenscha­ftlich ist er nicht zu begründen.

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Foto: Adobe Stock/Alexey Novikov Oder kann hier einfach nur die 35 gewinnen?

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