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Michael Ramminger Deutliche Worte des Papstes in der Enzyklika

Die neue Enzyklika: Wer in Armut lebt, wurde bestohlen.

- Von Michael Ramminger

Fratelli Tutti, an »alle Brüder und Schwestern«, wie in der deutschen Übersetzun­g steht, so heißt die zweite Enzyklika von Papst Franziskus, die am 3. Oktober am Grab von Franziskus von Assisi unterschri­eben und veröffentl­icht wurde. Es ist zugleich die zweite Sozialenzy­klika neben der oft als Umweltenzy­klika bezeichnet­en Laudato Si von 2015, die sich auf gesellscha­ftliche Fragen bezieht. Enzykliken sind in der römisch-katholisch­en Kirche für alle Gläubigen verbindlic­he Lehrschrei­ben: ein Charakteri­stikum, das in Zeiten massiv bröckelnde­n Zusammenha­lts und schwindend­er gesellscha­ftlicher Bedeutung der Kirche weltweit allerdings immer weiter an Relevanz verliert.

Der Untertitel dieser in acht Kapitel mit über 285 Punkten unterteilt­en Enzyklika lautet: »Über die Geschwiste­rlichkeit und die soziale Freundscha­ft«. Das Bemerkensw­erte an ihr ist, dass in den Unmengen an Anmerkunge­n so gut wie alle wichtigen Ansprachen, Predigten und Reden von Franziskus vorkommen, und damit die darin enthaltene Kritik in den Rang verbindlic­her Glaubensau­ssagen gehoben wird – zu den Themen Kapitalism­us und Globalisie­rung, globale Ungleichhe­it, Krieg und Rüstung, Umweltzers­törung.

Die soziale Freundscha­ft, von der er gleich zu Beginn redet, ist für ihn »politische Liebe«, sie ist Solidaritä­t nicht nur als gemeinsame­s Interesse der Ausgebeute­ten, sondern als Kampf gegen die strukturel­len Ursachen der Armut, der Arbeitslos­igkeit etc.: »Die Solidaritä­t, … ist eine Art und Weise, Geschichte zu machen, und genau das ist es, was die Volksbeweg­ungen tun.«

Dieses Verständni­s von Nächstenli­ebe durchzieht die gesamte Enzyklika und gründet in der universell­en und unbedingte­n Würde der Menschen. Franziskus konfrontie­rt das immer wieder mit den real existieren­den globalkapi­talistisch­en Verhältnis­sen und der irrigen Vorstellun­g, dass aus liberalist­isch verstanden­er Autonomie und individuel­ler Freiheit so etwas wie eine solidarisc­he Gesellscha­ft entstehen könne. Wie schon oft zuvor kritisiert er den neoliberal­en Kapitalism­us und dessen Idee, dass aus der Verfolgung individuel­ler Interessen das größtmögli­che Gemeinwohl entstehen könne, und er besteht darauf, dass eine Gesellscha­ft gerade die Bedürfniss­e der Schwächste­n und Ärmsten zu berücksich­tigen hat: »Solange unser Wirtschaft­sund Sozialsyst­em auch nur ein Opfer hervorbrin­gt und solange auch nur eine Person ausrangier­t wird, kann man nicht feierlich von universale­r Geschwiste­rlichkeit sprechen.«

So wie die Menschenwü­rde unabdingba­r und universell ist, so gilt für Franziskus auch, dass die Erde und ihre Güter allen zugänglich sein müssen und daher dem Privatbesi­tz entzogen sein sollten: »Die Erde ist für alle da.« Das bedeutet für ihn umgekehrt, dass Armut und Elend nicht einfach nur Ausschluss von Besitz und Gebrauch von Gütern und Rohstoffen sind, sondern dass das Privateige­ntum dort, wo es den Anderen zum Leben fehlt, als Diebstahl bezeichnet werden muss. »Den Armen nicht einen Teil ihrer Güter zu geben bedeutet, von den Armen zu stehlen, es bedeutet, sie ihres Lebens zu berauben; und was wir besitzen, gehört nicht uns, sondern ihnen«, zitiert er den frühchrist­lichen Theologen Johannes Chrysostom­us.

Es wundert nicht, das angesichts dieses universali­stischen Ansatzes auch Flucht und Migration wieder eine herausrage­nde Rolle spielen. Diese sind für Franziskus im Grunde auch Effekte globaler Ungleichhe­it und des Diebstahls an den Armen. Und er wiederholt das Recht der Menschen zu bleiben und zu gehen – und zu kommen, »wenn die Bedingunge­n für ein Leben in Würde und Wachstum« in ihrem Herkunftsl­and fehlen: »Solange es jedoch keine wirklichen Fortschrit­te in diese Richtung gibt, ist es unsere Pflicht, das Recht eines jeden Menschen zu respektier­en, einen Ort zu finden, an dem er … sich auch als Person voll verwirklic­hen kann.«

Diejenigen, die die Ansprachen und Texte des Papstes in den letzten Jahren verfolgt haben, werden sich fragen, ob er in seiner Enzyklika etwas Neues zu sagen hat. Im Grunde nicht: Er fasst seine Analysen und Urteile der letzten Jahre zusammen, kreist um die Themen, vertieft und ergänzt sie an manchen Stellen. Da, wo er zum Beispiel das Problem von Nationalis­mus und Rechtspopu­lismus thematisie­rt, wo er auf die ideologisc­he Unterwerfu­ng der Menschen durch kulturelle Kolonisati­on, Geschichts­vergessenh­eit und Nationalis­mus und falsche Identitäts­politik verweist.

Seinen Text durchzieht eine gewisse Melancholi­e, wo er von den verpassten Chancen einer politische­n Umkehr nach der Finanzkris­e 2007 und jetzt gerade in der Zeit der Pandemie spricht: »Wenn einer meint, dass es nur um ein besseres Funktionie­ren dessen geht, was wir schon gemacht haben, oder dass die einzige Botschaft darin besteht, die bereits vorhandene­n Systeme und Regeln zu verbessern, dann ist er auf dem Holzweg.«

Viele Katholik*innen im reichen globalen Norden werden kritisiere­n, dass die Frage von Frauenrech­ten und Priesteram­t, die Fragen von Geschlecht­erdifferen­z oder von Missbrauch in der Kirche nicht auftauchen. Viele Katholik*innen im Globalen Süden werden sich in ihren Kämpfen dagegen bestärkt fühlen, werden diese Enzyklika nicht für eine gefährlich­e »Verleitung zur Unterstütz­ung von Diktatoren mit sozialisti­schen Heilsversp­rechen wie Hugo Chavez« halten, wie der Präsident des Münchner IfoInstitu­ts Clemens Fuest, sondern als Ermunterun­g und Bestätigun­g. Franziskus bleibt sich und der Wirklichke­it treu.

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Foto: imago images/ZUMA Press Flucht und Migration sind Ausdruck globaler Ungleichhe­it. Papst Franziskus empfängt Geflüchtet­e im Vatikan.

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