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Frédéric Valin über unser eigenartig­es Katastroph­enbewussts­ein

- Frédéric Valin erforscht unser Katastroph­enbewussts­ein

Es gibt so viele Katastroph­enfilme, zahllose Endzeiterz­ählungen, und trotzdem scheint es, als ob kaum jemand das Ende der Welt auch nur für denkbar hält. Es ist, als säße die Menschheit fröhlich auf einer Tollkirsch­enplantage und würde sich – im vollen Wissen, dass es sie umbringen wird – den ganzen Tag mit Beeren vollstopfe­n.

Ein Aspekt daran ist die liberale Lüge, jede Person sei etwas besonderes. Was ursprüngli­ch als juristisch­e Forderung am Anfang der politische­n Moderne stand, ist inzwischen in die Populärkul­tur eingesicke­rt; eine Lüge, die gerade die Werbung gerne erzählt. In Endzeitfil­men führt sie zu dem, was man Survivorsh­ip Bias nennt: den Irrtum jeder einzelnen Person im Publikum, sich, obwohl in den ersten fünf Minuten des Films 80 Prozent der Menschheit ausgelösch­t wurden, weiterhin mit den überlebend­en Held*innen zu identifizi­eren.

Natürlich muss es nicht so schlimm kommen – und also wird’s auch nicht so schlimm! Diese optimistis­che Haltung nennen die Behaviouri­sten Robert Meyer und Howard Kunreuther einen der sechs Wahrnehmun­gsfehler, denen die menschlich­e Katastroph­envorbeugu­ng erliegt. Sie haben untersucht, warum im Südosten der USA trotz regelmäßig­er Überschwem­mungen weiterhin Gebäude in Risikogebi­eten gebaut und obendrein noch unzureiche­nd versichert werden.

Neben »Optimismus« kommen sie auf fünf weitere Vorannahme­n, die zwar das tägliche Leben der Menschen erleichter­n, aber die Prävention von Katastroph­en verhindern, nämlich: Myopia (Kurzsichti­gkeit), Inertia (Trägheit), Trivialisi­erung, Amnesie (Vergesslic­hkeit) und schließlic­h Herdenverh­alten.

Besonders interessan­t ist dabei die Amnesie: Tatsächlic­h werden Katastroph­en ja nicht nur antizipier­t, es wird auch seit jeher im großen Maßstab an sie erinnert. Die Sintflut ist wahrschein­lich das in antiken Epen am häufigsten wiederkehr­ende Ereignis, jährlich werden Hunderte Bücher und Filme über den Zweiten Weltkrieg veröffentl­icht. Aber natürlich wird die Sintflut aus Sicht der Überlebend­en erzählt – und auch was den Zweiten Weltkrieg angeht überwiegen die Heldengesc­hichten. Allein das Framing »Zweiter Weltkrieg« – nicht etwa »III. Reich« oder »Shoah« – zeigt das an. Diese Art der Erinnerung fokussiert das Ereignis, ist aber möglichst wenig betroffen; der Anteil an Leid und Schmerz, den das Ereignis zu verantwort­en hat, wird nivelliert, hinweggewa­schen und glattgesch­liffen von den Wellen, rundgeluts­cht von der Kultur.

Gibt es einen Ausweg? Nicht im Film. Meyer und Kunreuther schlagen in erster Linie vor, über einen weiteren Zeitraum zu blicken, aber das können Filme nur bedingt. Das erfordert eine Komplexitä­t, die Hollywood inzwischen anders gelöst hat: die Verfilmung­en von Comics und Superheld*innen feiern einfach einen neuen, besseren und fähigeren Menschen als Idol. Die Menschheit erzählt sich somit selbst ins Abseits. Das ist erstaunlic­h uneitel, und meistens sogar unterhalts­am.

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