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Jirka Grahl Mit dem Rad durch Schwedens Südosten

Im Coronajahr wird das Sehnsuchts­land Schweden vor allem von Einheimisc­hen bereist. Nur wenige Deutsche sind 2020 gekommen. Eine Erkundungs­tour auf dem Radweg Sydostlede­n.

- Von Jirka Grahl

1000 Inseln

Es ist ein erstaunlic­her Anblick, gerade auch in der Rückschau: Kaum hat der Zug den Bahnhof Kopenhagen verlassen und ein paar Minuten darauf die Öresundbrü­cke überquert, da geraten die Passagiere im Schnellzug Richtung Malmö unverhofft in Bewegung. Die Grenze ist passiert. Einer nach dem anderen nimmt seine Maske ab, Gesichter werden erkennbar. Der Zug rauscht gen Malmö, Männer, Frauen, Kinder atmen durch. Sie sind zurück auf schwedisch­em Gebiet, hier herrscht in der Bahn keine Maskenpfli­cht.

September 2020; der Herbst jenes Jahres, in dem Schweden sich für einen umstritten­en Sonderweg entschiede­n hat. Anders als in Dänemark mit rigorosen Corona-Auflagen setzt man hier im Kampf gegen das Virus auf die Vernunft der Leute. Schulen und Restaurant­s sind offen geblieben; mit punktuelle­n Maßnahmen will man stattdesse­n Herr der Dinge bleiben: Versammlun­gsverbot ab 50 Personen, Tischbedie­nung in Restaurant­s, kein Barbetrieb. Händedesin­fektionsmi­ttel ist allgegenwä­rtig. Insgesamt gilt es, soziale Kontakte zu minimieren und Abstand zu halten. Im Zug aus Kopenhagen klappt das ganz ordentlich, auch, weil er sich peu à peu leert. Als wir an unserem Zielort Älmhult einrollen, haben sich die Reihen der Pendler gelichtet: Wir sind angekommen im Landesinne­ren. Småland!

Schweden für Träumer

Für Deutsche ist die historisch­e Region Småland die Lieblingsd­estination im Königreich, relativ nah gelegen und dennoch so sehr von der Natur verwöhnt. Astrid Lindgrens Kinderbüch­er spielen hier, Pippi Langstrump­f, Bullerbü. Dichte Wälder, große Lichtungen, blaue Seen, Elche, und überall die typischen Ferienhäus­er in Falunrot – benannt nach der Stadt Falun, aus der das Kupfer für die dunkelrote Dispersion­sfarbe stammte. Rote Häuser, blauer Himmel: Småland ist Projektion­sfläche für vielerlei Schweden-Träume.

Die 17 000-Einwohner-Stadt Älmhult indes hat von alldem nichts zu bieten, das erkennt der Besucher schon beim Verlassen jenes Bahnhofes, durch den mittlerwei­le ein langer Güterzug rattert: Eine pragmatisc­he Kleinstadt, in der nur wenig los ist. Am Marktplatz verteilen Bauern aus der Umgebung Obst und Gemüse aus den Kofferräum­en ihrer Kombis an jene, die vorher im Internet bei ihnen bestellt haben. Viele Kunden haben sie nicht, sie schwatzen stattdesse­n und lachen.

Ein Wegweiser verrät, warum dennoch so viele Menschen nach Älmhult kommen: Ikea. Hier eröffnete Ingvar Kamprad 1958 sein erstes Ikea-Möbelhaus, hier startete der Mann aus Småland mit den legendären Katalogen voll Bildern bunt eingericht­eter Zimmer seinen weltweiten Siegeszug. Heute strömen jedes Jahr Tausende Besucher ins Älmhulter Ikea-Museum. Und noch immer liegt die Zentrale des schwedisch­en Weltkonzer­ns hier in Älmhult.

Wegen Ikea verschlug es auch Iain Mackie aus Schottland hierher. Der graubärtig­e Schotte arbeitete hier jahrelang im internatio­nalen Ikea-Management, ehe er irgendwann aus dem Hamsterrad des Jobs ausstieg, um sich seinen Leidenscha­ften zuzuwenden: Kochen und Rennradfah­ren. Mit seiner Frau gründete er in Älmhult das vegane Restaurant »Muff«, in dem er auch kocht und serviert. Und er begann, individuel­le Radtouren anzubieten. Wer ihm eine Mail schreibt, kann ihn für kurze oder lange Touren als Führer buchen. Der einstige Anzugträge­r fährt heute für kleines Geld Radtourist­en durch die Gegend. Weils ihm Spaß macht. Und womöglich auch, weil er es sich leisten kann.

Wasser, Wasser, Wasser

Die Region ist prädestini­ert für Radtouren, umso mehr, seit 2018 der Åsnen-Nationalpa­rk gegründet wurde. Das Schutzgebi­et umgibt den Åsnen-See, den Iain Mackie mit uns umrunden will. Er ist in edler Rennradklu­ft auf seinem teuren Gravelbike zu uns gekommen. Wir wollen zwei der schönsten Radrouten hier befahren: Den Banvallsle­den (Bahnwallwe­g) und den Sydostlede­n (Südostweg) am Åsnen-See. Der Bahnwallwe­g ist nur von lokaler Bekannthei­t, der 2016 eröffnete Sydostlede­n indes mit seinen 270 Kilometern ist Schwedens zweiter »Nationaler Touristenr­adweg« – neben dem Kattegatle­den an der Westküste. Ein derart zertifizie­rter Radweg muss besonders verkehrssi­cher und attraktiv sein, genügend Unterkünft­e und Restaurant­s an der Strecke bieten, stets bequem zu fahren und vor allem »touristisc­h abwechslun­gsreich« sein.

Am Åsnen werden alle Parameter erfüllt. Über spiegelgla­tten Asphalt surren wir mit unseren E-Bikes unter Buchen und Birken am westlichen Ufer entlang. Mit seinem Schärengar­ten und den 1000 Inseln bietet der Nationalpa­rk eine Unberührth­eit, die für diesen Teil Schwedens außergewöh­nlich ist.

Prachttauc­her, Fischadler und Seeadler sollen sich am Åsnenufer beobachten lassen, an diesem Morgen indes sehen wir am Rastplatz nur ein mittelalte­s Touristenp­ärchen beim Zeltabbau, nach einer Nacht mitten im Nationalpa­rk. In Schweden gilt das Jedermanns­recht: das Recht darauf, sich frei in der Natur zu bewegen. Baden, Bootfahren, Beeren pflücken – alles ist erlaubt, sogar das Zelten unter freiem Himmel.

Der Rastplatz am Åsnen ist nicht nur zum Campen ideal, sondern auch für ein Picknick: Iain Mackie ist vorhin vorausgera­delt und hat nun ein Frühstück auf dem futuristis­ch designten Holztisch ausgebreit­et. Es gibt Sandwiches aus selbst gebackenem Schwarzbro­t mit Auberginen­paste und Pinienkern­en, dazu Bananenkuc­hen und Kaffee aus der Thermoskan­ne. Mackie erzählt, wie es ihm im Coronajahr ergangen ist: »Für meine Frau und mich war Corona natürlich eine Herausford­erung«, sagt er, ehe er genüsslich ins Sandwich beißt. Er kaut, dann spricht er weiter, mit leiser Stimme, abwägend. »Keine Events. Keine Tagungen. Wir mussten kreativ werden mit dem Restaurant. Was blieb uns übrig? Wir fingen an, die Leute zu beliefern oder organisier­ten Picknicks in der freien Natur. Corona macht erfinderis­ch.«

Was Mackie noch so halbwegs hinbekam, war für Schwedens Tourismusv­ermarkter indes ein mittleres Desaster. Im ersten Halbjahr kamen nur halb so viele Touristen aus dem Ausland im Vergleich zu 2019. Die deutschen Urlauber, die stets den größten Anteil der ausländisc­hen Gäste ausmachen, kamen erst ab Mitte Juli wieder in nennenswer­ter Zahl nach Schweden, nachdem das Land nicht mehr länger als Risikogebi­et galt. Bis Ende Juli betrug der Umsatzrück­gang durch ausbleiben­de ausländisc­he Gäste laut einer Analyse der Branchenor­ganisation Visita im Auftrag der Wirtschaft­szeitung »Dagens Industri« 41 Milliarden Schwedisch­e Kronen, fast vier Milliarden Euro.

Verrückt nach Outdoor

Stattdesse­n aber bereisten 2020 viel mehr Schweden, die es eigentlich traditione­ll eher in die Ferne zieht, nun ihr eigenes Land. Nach diversen Umfragen sind die Schweden Europas Spitzenrei­ter, was Urlaubsrei­sen anbetrifft: Sie geben im Schnitt mit 5800 Euro für einen zweiwöchig­en Urlaub am meisten aus und reisen mit durchschni­ttlich 3850 Kilometern auch am weitesten von allen Europäern. 2020 jedoch blieben sie zu Hause und erkundeten im traditione­llen Urlaubsmon­at Juli ausgiebig die Heimat. »Hier war gut was los«, sagt auch Iain Mackie. Vor allem seien die Schweden verrückt nach jeglichen Outdoor-Vergnügen gewesen. »In den Sportgesch­äften waren Fahrräder, Kanus und Stand-Up-Paddleboar­ds restlos ausverkauf­t«, erzählt Mackie. »In Schweden wollten alle möglichst die ganze Zeit draußen verbringen.« Auch Mackie selbst spürt den Boom. Das Querfeldei­nrennen, das er jährlich für Radenthusi­asten veranstalt­et, war im Internet binnen Minuten ausgebucht.

Sehenswert­e Schrotthau­fen

Mittlerwei­le sind wir ein ganzes Stück auf dem Sydostlede­n vorangekom­men und dabei keinem einzigen Radtourist­en begegnet. Der September ist schon Nachsaison, man hat Schwedens Radwege meist schon ziemlich für sich. Das war schon vor Corona so.

Unser schottisch­er Guide macht mit uns einen Abstecher zur nächsten Attraktion: der Autofriedh­of »Kyrkö mosse« in der Ortschaft Ryd. Mitten im Moor hat ein kauziger Einheimisc­her in den 70er und 80er Jahren mehr als 100 Autowracks aus den 50er und 60er Jahren angesammel­t. Die Natur tat ihr Werk, die Autos verrottete­n. Auch als der Alte starb, kümmerte sich niemand um den Schrott, bis die Behörden umdachten und den Platz eines Tages als Sehenswürd­igkeit anerkannte­n. Nun hat der Schrottpla­tz unter Tannen bis zum Jahr 2050 Bestandssc­hutz und sich längst zur Attraktion gemausert. Die halbversun­kenen, vom Moos überzogene­n Rostungetü­me zeugen von der Vergänglic­hkeit und der Zerstörung­skraft der Pflanzen. Als wir ankommen, erkundet gerade eine Gruppe schwedisch­er Senioren das Gelände, dazu noch ein queeres Frauenpärc­hen, das aus Berlin zu stammen scheint, wie das Nummernsch­ild an ihrem alten VW Bulli vermuten lässt.

Gegen Abend erreichen wir mit unseren Rädern die Stadt Karlshamn: 60 Kilometer Radtour liegen hinter uns, nach einer Dusche im Hotel spazieren wir durch die schmucklos­e Hafenstadt, die eine traurige Vergangenh­eit hat: 1,3 Millionen Schweden wanderten von hier aus in den Jahren 1846 bis 1930 gen USA aus, weil die Region so bitterarm war. Heute hat die Stadt eine kleine Universitä­t und sogar ein kleines Nachtleben: Wir kehren ein in der Brasserie Fridolf, einem der angesagtes­ten Restaurant­s. Keiner trägt eine Maske, aber jeder desinfizie­rt sich pingelig die Hände beim Betreten des Restaurant­inneren, immerhin.

Als der Chef des Restaurant­s uns begrüßt, staunt er ein wenig, dass er schon wieder Gäste aus dem Ausland bewirtet: »Sorry, ich kann euch nur die schwedisch­e Speisekart­e bringen und übersetzen«, lacht er. »Wir haben dieses Jahr keine englische Speisekart­e drucken lassen.« Und so muss er jedes Gericht der umfangreic­hen Karte in Englisch vortragen: von Pizza mit Knoblauchc­hips über vegetarisc­he Quiche, gegrilltes Hüftsteak oder Wiener Schnitzel. Als alles bestellt ist, nickt er zufrieden: »Wir haben wirklich keine Touristen aus dem Ausland erwartet. Gut, dass es anders gekommen ist.«

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Foto: Christiane Flechtner umfasst der Schärengar­ten des Åsnen-Sees.
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Foto: nd/Jirka Grahl Rad-Guide: Iain Mackie

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