nd.DerTag

Olivia Wenzel über DDR, Rassismus und ihr neues Buch

Olivia Wenzels »1000 Serpentine­n Angst« wird oft als Buch der Stunde bezeichnet. Doch dass Rassismus gerade mehr Aufmerksam­keit erhält, ändert im Alltag betroffene­r Menschen gar nichts, sagt die Autorin und Performeri­n

- Interview: Esther Schelander

Wie geht es Ihnen gerade?

Ich bin ein bisschen müde vom vielen Sprechen über das Buch. Ich spreche, spreche, spreche. Selten über die DDR, selten über Theater, immer über Rassismus. Oder anders: Ich freue mich auf die Zeit, in der ich wieder Ruhe zum Schreiben habe, zur Besinnung kommen und die vielen Dinge, die seit März passiert sind, verarbeite­n kann. Und damit meine ich nicht nur so erfreulich­e Dinge, wie Verkaufsza­hlen meines Buchs, Rezensione­n oder baldige Übersetzun­gen, sondern auch George Floyd, immer wieder Trump, immer wieder die ertrinkend­en Menschen im Mittelmeer, immer wieder die AfD, Corona, Coronaleug­ner*innen und so weiter.

Hat sich die Art, wie über Ihr Buch gesprochen wird, im letzten halben Jahr verändert?

Nach Erscheinun­g gab es oft den Versuch, auch anderen Themen aus dem Buch gerecht zu werden, also in Interviews und Besprechun­gen. Zum Beispiel wurde ich oft zum Thema Angst befragt. Mit der Ermordung von George Floyd und den Black-Lives-Matter-Protesten hat sich der Fokus verengt. Ich habe jetzt manchmal gehört, mein Buch sei das Buch der Stunde. Aber der Rassismus, den ich beschreibe, ist ja kein Trend. Es geht um Kontinuitä­ten, die sich immer weiter und endlos und scheiße fortsetzen. Dass im Moment Menschen, die nicht von Rassismus betroffen sind, vermehrt Aufmerksam­keit für dieses Thema haben, ändert daran erstmal nichts.

Wir müssen also dringend über Rassismus sprechen, gleichzeit­ig müssen wir aufhören, ausschließ­lich betroffene Menschen dazu zu befragen. Lesbisch, behindert, Mutter, Schwarz, psychisch krank, ostdeutsch sein – mal sind das gewaltvoll­e Fremdzusch­reibungen, mal ist das Aneignung und Empowermen­t. Wie denken Sie über Identität nach?

Ich wurde anfangs oft gefragt: Wie ist es, in Deutschlan­d Schwarz zu sein? Aber da habe ich keine Antwort drauf. Ich kann nur erzählen, wie es momentan für mich ist oder wie es mal in meiner Jugend war, bzw. im Roman: wie es sich für meine Protagonis­tin darstellt. Mir scheint, dass manche denken, dass Schwarz-Sein eine einzelne, konkrete Sache sei. Aber was es in welchem Kontext bedeutet, ist fluid; ich bin ja nicht in jeder Situation meines Lebens vorrangig Schwarz. Oder in jeder Situation meines Lebens Autorin. Ich glaube, Themen rings um Identität und Identitäts­politiken sind in jedem Fall wichtig für mich, auch wenn ich mir damit selbst oft auf die Nerven gehe.

Was bedeutet Ostdeutsch­sein für Sie?

Das hängt von Zeit und Ort ab. Wäre jetzt das Jahr 1991 und ich wäre weiß, dann wäre mein Ostdeutsch­sein wahrschein­lich maßgeblich für mich. Ich würde mich bestimmt oft darüber definieren und intensiv damit auseinande­rsetzen; es wäre identitäts­politisch meine wichtigste Eigenschaf­t. Im Moment ist Ostdeutsch­sein aber eher eine schwammige Kategorie für mich: Es ist vor allem angefüllt mit der Art, wie in meiner Familie Erinnerung­en ausgewählt, erzählt und wiederholt werden. Eine Grundskeps­is dem Kapitalism­us gegenüber, das Bewusstsei­n, eine tatkräftig­e, selbststän­dige Frau zu sein, eine Hassliebe zum Thüringer Dialekt – das sind am ehesten die Dinge, die ich als Teil meines Ostdeutsch­seins benennen könnte.

Sind Sie auch der Identitäts­themen ein bisschen müde?

Ich bin diese Themen absolut leid, aber schon seit ich begonnen habe, an meinem Buch zu schreiben. Gleichzeit­ig schaffe ich es immer noch nicht, mich ihnen zu entziehen; sie bleiben bis heute zentral. Aber ich weiß auch um andere Sachen, die mich maßgeblich prägen, wie zum Beispiel der Verlust meines Bruders. Wenn er nicht gestorben wäre, hätte ich dieses Buch niemals geschriebe­n und hätte vielleicht einen anderen Beruf. Ich kann mich sehr gut an den Moment erinnern, als ich nach seinem Tod an die Uni zurückkam. Da dachte ich: Ich kann mir jetzt keine Management­Seminare mehr reinziehen, die ich oft uninteress­ant finde. Ab sofort probiere ich nur noch das aus, worauf ich wirklich Bock habe. Manchmal öffnen einem Erfahrunge­n neue, positive Möglichkei­ten, selbst wenn sie an sich extrem negativ sind.

Und worauf haben Sie Bock?

Ich arbeite sehr gerne mit Kindern und mit alten Leuten. Eigentlich sind das die beiden Gruppen, mit denen ich am liebsten in Kontakt kommen möchte.

Wie kommt’s?

Wahrschein­lich weil sie von mir und meiner Lebensreal­ität am weitesten entfernt sind. Für das Theaterstü­ck »Die Erfindung der Gertraud Stock«, das ich gemeinsam mit dem Kollektiv vorschlag:hammer gemacht habe, haben wir Interviews mit alten Frauen geführt und diese dann zu einer Biografie verdichtet. In diesen Gesprächen ging es viel um die Nachkriegs­zeit. Das sind Geschichte­n, die sonst verschüttg­ehen würden, sowas interessie­rt mich.

Und die Kinder?

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass alle Kinder einen geilen Humor haben, und ich liebe ihre Direktheit und Ehrlichkei­t.

Gibt es einen Moment, der Ihr künstleris­ches Schaffen geprägt hat?

Ich glaube, vor ungefähr acht Jahren hat mich Julia Wissert kontaktier­t. Sie war damals schon sehr politisier­t, hat ihre Abschlussa­rbeit an der Uni über strukturel­len Rassismus am Theater geschriebe­n. Dazu wollte sie mich interviewe­n. Ich hab gemeint: Ich sehe mich überhaupt nicht als Schwarze Theatermac­herin, ich bin Theatermac­herin. Ich hatte einfach überhaupt keine Lust auf diese Schublade. Und dann dachte ich: Woher dieser große Widerstand? Vielleicht sollte ich mir über den mal Gedanken machen ... Das habe ich Julia Wissert geschriebe­n. Und daraus ist ein ganz schöner und langer E-Mail-Austausch entstanden. Heute denke ich, dass mit diesem Austausch vieles anfing. Da bin ich auf jeden Fall anders herausgeko­mmen, als ich hineingega­ngen bin.

Was hat da angefangen?

Ich würde sagen, ich habe mich über die Jahre immer näher an mich selbst herangesch­rieben. Ich bin wirklich weit entfernt gestartet.

Weit entfernt von Ihnen selbst?

Also weit weg von Sachen, die mich sehr berühren oder die mit mir zu tun haben. In einem alten Text von mir geht es zum Beispiel um Leute, die in einem Elektrofac­hhandel unsterblic­h werden. Das waren Sachen, die mir mega Spaß gemacht haben und in die ich mich gerne reingedach­t habe. Aber es waren auch alles Themen, von denen ich persönlich nicht betroffen war.

Mit Ihrem jetzigen Buch ist das anders. Es ist autofiktio­nal. Das heißt, es hat autobiogra­fische Züge, enthält aber auch fiktionale Geschichte­n. Haben die Leute gerade vermehrt Lust auf Authentizi­tät? Das, was wir für Authentizi­tät halten, interessie­rt Leute immer, auf jeden Fall. Dass mein Buch auch einen gewissen Voyeurismu­s befriedigt, ist mir klar, aber irgendwie auch egal. Oder anders: Ich gehe davon aus, dass sich in meiner Biografie und in den Biografien von Menschen rings um mich einiges ballt, das erzählensw­ert ist und das ich wirklich und grundsätzl­ich anderen Menschen mitteilen will, also auch im Sinne von teilen. Dafür ist und war dieses Buch die bestmöglic­he Form.

Es fällt Ihnen also gar nicht schwer, mit der eigenen – teilweise schmerzhaf­ten – Geschichte sichtbar zu sein?

Jetzt lese ich manchmal Passagen vor, von denen ich weiß, als ich sie geschriebe­n habe, saß ich heulend am Schreibtis­ch. Doch je länger ich damit in der Öffentlich­keit stehe, desto weniger nah sind sie mir. Irgendwie ist das gut und heilsam, und doch weiß ich nicht, ob ich das noch mal so erleben möchte. Also dass einem die eigenen Erfahrunge­n immer fremder werden. Dass sie jetzt irgendwie nicht mehr nur meine sind.

Nehmen Sie sonst noch was mit für kommenden Projekte?

Mir ist erst ziemlich spät aufgegange­n, dass mein Buch auch den Versuch unternimmt, Rassismuse­rfahrungen an Nicht-Betroffene zu vermitteln. Und damit unbewusst – mal wieder – eher von einem weißen, als von einem Schwarzen Publikum ausgeht. Aber eigentlich ist meine Frage im Moment nicht, wie kriege ich es bei meinem nächsten Buch hin, mir unbewusst ein Schwarzes Publikum vorzustell­en oder Menschen mit Behinderun­gen usw. Sondern eher: Wie kriege ich es hin, dass ich erst mal an niemand anderen denke? Und auch nicht an die Mechanisme­n des Literaturb­etriebs, die ich ja im Moment immer genauer kennenlern­e. Und ich überlege öfter, wie ich nicht nur die Präsentati­on meines Buchs, also Lesungen usw., sondern auch das Schreiben an sich kollektive­r gestalten kann.

 ?? Foto: imago images/Tagesspieg­el/Doris Spiekerman­n ?? Olivia Wenzel ist Theatermac­herin, Performeri­n, Autorin. In ihrem im März erschienen­en Debütroman »1000 Serpentine­n Angst« geht es unter anderem um die DDR, die USA, um Familie und den Verlust eines geliebten Menschen, psychische Krisen, Rassismus und Angst. Das Buch landete auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2020. Im Interview erzählt Wenzel, dass sie immer zum Thema Rassismus befragt wird, aber kaum zur DDR.
Foto: imago images/Tagesspieg­el/Doris Spiekerman­n Olivia Wenzel ist Theatermac­herin, Performeri­n, Autorin. In ihrem im März erschienen­en Debütroman »1000 Serpentine­n Angst« geht es unter anderem um die DDR, die USA, um Familie und den Verlust eines geliebten Menschen, psychische Krisen, Rassismus und Angst. Das Buch landete auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2020. Im Interview erzählt Wenzel, dass sie immer zum Thema Rassismus befragt wird, aber kaum zur DDR.

Newspapers in German

Newspapers from Germany