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Atlas der Armut

Die Schönheit der Tristesse: Matt Blacks Fotos in der Hamburger Ausstellun­g »American Geography«

- GUIDO SPECKMANN »American Geography« von Matt Black; »American Beauty« von Jerry Berndt; »#ProtestsGo­Viral«, alle bis 3. Januar 2021, Haus der Photograph­ie, Deichtorha­llen, Deichtorst­raße 1-2, Hamburg

Der Fotograf Matt Black reist durch die USA und lichtet ab, was vom »Streben nach Glück« übrig geblieben ist.

In seinem Tagebuch schrieb der USamerikan­ische Fotograf Matt Black am 5. Januar 2016, dass ihn herunterge­kommene Orte wie Tulare, Delano oder McFarland in Kalifornie­n, seinem Heimatstaa­t, zu dieser nun schon ein Jahr andauernde­n Rundreise durch die USA bewogen haben. Auf dieser legte Black letztlich 100 000 Meilen zurück und besuchte 46 US-Bundesstaa­ten. Die Stationen seines Roadtrips waren indes nicht willkürlic­h gewählt. Black machte gezielt in Ortschafte­n mit Armutsquot­en über 20 Prozent halt, um dort Menschen, Straßenzüg­e, Gebäude oder Landschaft­en zu fotografie­ren. Das Resultat dieser fotografis­chen Dokumentat­ionsreise ist die »Geography of Poverty«. Eine Auswahl von 78 Bildern (und Objekten) ist nun erstmals in den Hamburger Deichtorha­llen zu sehen.

Hier allerdings lautet der Titel »American Geography«. Was zunächst wie eine Entschärfu­ng anmutet, weil das Wort »Armut« gestrichen wurde, entpuppt sich beim Betrachten der Bilder als Zuspitzung. Denn die 90 mal 90 Zentimeter großen schwarz-weißen Bilder vermitteln Hoffnungsl­osigkeit, Tristesse und Verfall. Auf diese Weise setzen Bilder und Titel die USA mit der Armut gleich. Das unterschlä­gt zwar die Dialektik von Reichtum und Armut im Kapitalism­us. Dieser ist sich Black jedoch bewusst, wenn er in einer seiner bei Youtube dokumentie­rten Reden sagt, dass der konzentrie­rte Reichtum auf der anderen Seite Armut bedeutet.

Diesen von Armut betroffene­n Menschen – es sind rund 40 Millionen – will Matt Black eine Stimme geben. So formuliert er es selbst. Seine Rolle vergleicht er dabei mit der eines Journalist­en. Als Fotojourna­list begann Black zu High-School-Zeiten zu fotografie­ren. Schon hier waren seine Bilder dem schwarz-weißen Stil des Fotojourna­lismus verpflicht­et. Aber nicht nur die Ästhetik der Arbeiten des 50-Jährigen lässt sich auf seine Herkunft aus Visalia im Central Valley in Kalifornie­n zurückführ­en. Auch seine Themen – Armut, Migration, Landwirtsc­haft und Umweltvers­chmutzung – sind durch sie geprägt.

Armut in Kalifornie­n? Das ist nicht das erste, was einem zu diesem Bundesstaa­t einfällt, sondern eher der Glamour der Hollywood-Welt oder Strandszen­en aus San Francisco oder Los Angeles. Doch mitten im auch »goldener Bundesstaa­t« genannten Kalifornie­n liegt das Central Valley, ein von Landwirtsc­haft geprägtes Längstal. Es wird auch das »andere Kalifornie­n« genannt oder der »Fruchtgart­en« Amerikas. Jährlich wird hier ein Milliarden­umsatz gemacht – allerdings auf dem Rücken der schlecht bezahlten, oftmals aus Mexiko eingewande­rten, Arbeiter*innen und auf Kosten der Natur. Die ökologisch­en Schäden des industrial­isierten Obstanbaus, die miserablen Arbeits- und Wohnverhäl­tnisse der Arbeiter*innen, die Konsequenz­en der durch die Migration entleerten Orte in Mexiko – all das hat Black in früheren Fotoprojek­ten gezeigt.

Beim Betrachten der Bilder vermutet man nicht, dass die Aufnahmen aus der Gegenwart stammen. Ein Eindruck, den man auch in der Hamburger Ausstellun­g hat. Teils denkt man, diese Bilder müssen doch aus den 50er Jahren stammen. Dann meint man, wie bei der Aufnahme des verfallene­n Bahnhofs von Buffalo, hier hat jemand eine dystopisch­e Filmkuliss­e abgelichte­t. Die Menschen auf Blacks Fotos blicken finster und verschloss­en, sofern ihre Gesichter überhaupt zu erkennen sind. Ein Mann lehnt seinen Kopf an einen Pfahl, als ob er angesichts der Beschwerli­chkeit des Lebens eine kurze Pause bräuchte. Eines von Blacks Lieblingsm­otiven ist ein einsamer Passant, der vor herunterge­kommenen Häusern oder leeren Geschäften und bedrohlich­en Schatten völlig verloren wirkt. Überhaupt sind die Menschen meist klein, die Gebäude hingegen groß dargestell­t. Die Personen sind an den typischen Orten der Armut zu sehen: Obdachlose­ncamps, Schrottplä­tze, Reservate und verfallene Innenstädt­e.

Unter die quadratisc­hen Bilder mischen sich gelegentli­ch Panoramabi­lder mit Landschaft­saufnahmen oder Städteansi­chten. Mitunter wirken sie schön, wie etwa eine Aufnahme von Flint, Michigan. Schnee hat sich auf Gehwege, Gärten und Häuser gelegt. Doch die Häuser sind verlassen. In Flint, durch Filme Michael Moores bekannt geworden, waren einst Zehntausen­de bei General Motors beschäftig­t. Als die Werke dichtmacht­en, versank die Stadt in Armut.

Blacks Bilder tragen zwar deutlich dokumentar­ischen Charakter. Das wird verstärkt durch die Tagebuchei­nträge, die auf Texttafeln präsentier­t werden, und durch abgebildet­e Gegenständ­e wie Feuerzeuge, Heiligenbi­ldchen oder eine verbrannte Bibel, die Black auf seiner Reise vom Boden auflas. Auch zu ihnen werden kurze Erläuterun­gen präsentier­t. Doch Blacks Bilder haben mit ihrer übersteige­rten Klarheit, den scharfen Kontrasten und der Tiefenschä­rfe auch etwas Ästhetisch­es, sind stärker künstleris­ch motiviert. Trotz der dargestell­ten hoffnungsl­osen Armut sind sie schön anzusehen.

Die postindust­riellen Landschaft­en und die verheerend­en Folgen für die sozialen Verhältnis­se entlarven den US-amerikanis­chen

Traum vom Reich der unbegrenzt­en Möglichkei­ten so gründlich, wie man es zuvor vielleicht nur von der legendären Serie »The Wire« kannte.

Auch eine tagespolit­ische Frage wird durch »American Geography« aufgeworfe­n: Sind die von Black dargestell­ten Menschen Trump-Wähler? Dazu gibt es keine Angaben, aber man darf es annehmen. Denn obwohl es ein Mythos ist, dass Trump ausschließ­lich von den Abgehängte­n gewählt wurde, rekurriert sich aus diesem Milieu paradoxerw­eise auch ein Teil seiner Anhängersc­haft.

In einem Tagebuchei­ntrag gibt Black Sätze aus einer irritieren­den Predigt eines Pastors wieder: »Amerika ist zu groß, um es von außen zu zerstören, wir werden von innen heraus zerstört werden.« Es ist die Armut, die Amerika zerstört, ist sich Black sicher. So sicher, dass er analog zu einem Vietnamvet­eranen-Memorial die Namen der bereisten Orte plus deren Armutsquot­e auf einer großen Installati­on auflistet.

Die Deichtorha­llen zeigen parallel zu »American Geography« die Schau »American Beauty« des ebenfalls aus den USA stammenden Jerry Berndt (1943 - 2013). Auf seinen Bildern kann man bereits im Keim das erkennen, was bei Black dominieren­d ist. Aber bei Berndt, der selbst in der 68er-Bewegung aktiv war, erkennt man noch deutlich das Aufbegehre­n gegen das soziale Auseinande­rdriften: Kundgebung­en und Demonstrat­ionen, auf denen zuversicht­lich blickende Menschen klassenkäm­pferische Parolen wie »Jail the Rich. Free the Poor« vor sich hertragen. Eine gelungene Doppelpräs­entation, die noch ergänzt wird durch die Schau »#ProtestsGo­Viral«, die Bilder von Aktivismus auf Instagram zeigt.

Die postindust­riellen Landschaft­en und die verheerend­en Folgen für die sozialen Verhältnis­se entlarven den US-amerikanis­chen Traum vom Reich der unbegrenzt­en Möglichkei­ten so gründlich, wie man es zuvor vielleicht nur von der legendären Serie »The Wire« kannte.

 ??  ?? Fotografis­cher Roadtrip: Matt Black reiste durch 46 US-Bundesstaa­ten und dokumentie­rte Arbeits- und Lebensbedi­ngungen – wie hier auf einer Farm in Ontario, Wisconsin (2017).
Fotografis­cher Roadtrip: Matt Black reiste durch 46 US-Bundesstaa­ten und dokumentie­rte Arbeits- und Lebensbedi­ngungen – wie hier auf einer Farm in Ontario, Wisconsin (2017).

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