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Mehr Corona-Infektione­n: Anspannung steigt

Politiker stellen neue Pandemiema­ßnahmen in Aussicht – gleichzeit­ig wächst die Kritik am uneinheitl­ichen Vorgehen

- ULRIKE HENNING

Die Zahl der mit Sars-CoV-2 Neuinfizie­rten steigt bundesweit stark an. Länder und einzelne Kommunen wollen Maßnahmen verschärfe­n. Doch die Kritik an der Regelungsw­ut wächst ebenso.

Am Wochenende haben weitere Großstädte die Warnstufe von 50 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen überschrit­ten: Köln, Essen und Stuttgart. Zudem meldeten die Gesundheit­sämter in Deutschlan­d nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Sonntagmor­gen 3483 neue Corona-Infektione­n. Am Freitagmor­gen hatte das RKI 4516 Neuinfekti­onen, am Samstagmor­gen sogar 4721 registrier­t. Dieser Rückgang hat jedoch nicht viel zu bedeuten, denn an Sonntagen wie auch an Montagen sind die erfassten Fallzahlen erfahrungs­gemäß meist niedriger. Die Reprodukti­onszahl, kurz R-Wert, lag in Deutschlan­d laut Lageberich­t vom Samstag bei 1,42 (Vortag: 1,34). Das heißt, dass ein Infizierte­r im Mittel rund 1,4 weitere Menschen ansteckt. Der R-Wert bildet das Infektions­geschehen etwa eineinhalb Wochen zuvor ab.

Angesichts dieser Entwicklun­g müssen sich die Bürger auf weitere Einschränk­ungen gefasst machen – etwa auf eine nächtliche Sperrstund­e wie sie seit Samstag in Berlin gilt, oder die zahlreiche­n Beherbergu­ngsverbote in einzelnen Bundesländ­ern, von denen zunächst neun Millionen Bürgerinne­n und Bürger betroffen waren. In München und Trier hatte die Polizei am Wochenende bereits Partys wegen Verstößen gegen CoronaBest­immungen aufgelöst.

In weiteren Bundesländ­ern versuchen die Landesregi­erungen, nun noch einmal deutlicher Akzente in der Bekämpfung der Pandemie zu setzen. In Nordrhein-Westfalen kam am Sonntag das Landeskabi­nett zu einer Sondersitz­ung zusammen. Das Bundesland hat seit Tagen die höchsten Ansteckung­sraten aller deutschen Flächenlän­der. Am Sonntag lagen hier neun Kreise und kreisfreie Städte über der Warnstufe von 50 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner und gelten somit als Corona-Risikogebi­et.

Besonders betroffene Kommunen ergreifen ebenfalls zusätzlich­e Maßnahmen. Die Stadt Stuttgart mobilisier­t zur Verfolgung von Kontaktper­sonen im Zuge der CoronaPand­emie

die ganze Stadtverwa­ltung. Zudem erbittet sie die Hilfe der Bundeswehr. Ziel ist laut Oberbürger­meister Fritz Kuhn (Grüne), die Zahl der Neuinfekti­onen wieder zu senken. Nur so könnten Schulen, Kitas, Wirtschaft und Handel offen bleiben. Bereits am Freitag hatte Kanzlerin Angela Merkel mit den Oberbürger­meistern der elf größten deutschen Städte beraten.

Gegen das uneinheitl­iche Vorgehen der Bundesländ­er laufen unter anderem Wirtschaft­sverbände Sturm. Der Deutsche Industrieu­nd Handelskam­mertag beklagte, dass die »unkoordini­erten Regelungen« für großer Verunsiche­rung bei den Unternehme­n sorgten. Schließlic­h hätten gerade die Betriebe in der Tourismusw­irtschaft sichere Hygienekon­zepte ausgearbei­tet. Auch vom Hotel- und Gaststätte­nverband Dehoga kam Kritik. Gerade zu Beginn der Herbstferi­en hätten Gäste wie Hoteliers unzählige Fragen und wüssten nicht, was jetzt im Detail gelte.

Der Chef der Kassenärzt­lichen Bundesvere­inigung, Andreas Gassen, warf den Ländern überzogene Maßnahmen vor. »Diese Regelungsw­ut ist oft eher kontraprod­uktiv«, sagte er der »Neuen Osnabrücke­r Zeitung« (Samstag). Gassen bezeichnet­e innerdeuts­che Reisen als »Pseudo-Gefahr«. Masseninfe­ktionen gebe es durch traditione­lle Großhochze­iten, in Fleisch verarbeite­nden Betrieben und durch unkontroll­iertes Feiern. Sperrstund­en und Alkoholver­bote wie in Berlin nannte Gassen mehr als fragwürdig. »Wir müssen aufhören, auf die Zahl der Neuinfekti­onen zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange.« Selbst 10 000 Infektione­n täglich wären aus Sicht des Verbandspo­litikers kein Drama, wenn wie derzeit nur einer von 1000 schwer erkrankt.

In vielen europäisch­en Staaten entwickelt sich das Infektions­geschehen inzwischen jedoch noch viel dramatisch­er. Kritisch ist unter anderem die Lage in Frankreich und Spanien. In beiden Ländern steigt der Anteil der Covid-19-Patienten in den Krankenhäu­sern. Über die Hauptstadt Madrid verhängte die spanische Regierung am Freitag den Notstand. Dort dürfen die Menschen ihren Wohnbezirk nur aus triftigen Gründen verlassen, etwa für den Weg zur Arbeit. Von den Einschränk­ungen betroffen sind knapp 4,8 Millionen Menschen. Der Notstand soll zwei Wochen gelten.

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