nd.DerTag

Ein Stehplatz für immer

Vor einem Jahr wurde Fußballfan Kevin S. von einem Rechtsradi­kalen erschossen. Stadt, Anhänger und Verein sind uneins, wie und wessen gedacht werden sollte

- FABIAN HILLEBRAND, HALLE

Am 9. Oktober 2019 tötete ein Attentäter zwei Menschen in Halle. Einer von ihnen war Fan des Halleschen FC. Was hat das mit dem Verein gemacht?

So leer wie am vergangene­n Freitag ist das Stadion des Halleschen FC nie. Das Crescendo einer Opernsänge­rin klingt aus den Boxen dort, wo sonst ein Stadionspr­echer die Auswechslu­ngen verkündet und die Vorsänger die Fankurve anpeitsche­n.

Der Anschlag von Halle, bei dem zwei Menschen starben, liegt genau ein Jahr zurück. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier­s Rede in der Ulrichskir­che wird an verschiede­nen Stellen in der Stadt übertragen. Auch im Fußballsta­dion. Denn getroffen hat es einen von ihnen. Etwa 30 Menschen haben sich hier eingefunde­n. Sie sehen aus, wie Fußballfan­s eben aussehen: Jeans-Kutten mit vielen Aufnähern, Tattoos und Zigaretten. Alle tragen rot: die Farben des Vereines.

Als die Tür der Synagoge in Halle am 9. Oktober 2020 standhielt und der versuchte Massenmord an Juden am Feiertag Jom Kippur misslang, hatte der Täter beschlosse­n, sich andere Opfer zu suchen. Getroffen hat es dann unter anderem Kevin S. In einem Imbiss wird er erschossen. Der 20-Jährige ist kein Jude, kein Linker, kein Islamist. Keiner von denen, gegen die der Täter Stephan B. an diesem Tag ins Feld gezogen war.

Der 20-jährige Kevin war Maler und Fußballfan. Auf Videos ist zu sehen, wie er lauthals singt: »Das ist das Land der Vollidiote­n, die denken, Heimatlieb­e ist gleich Staatsverr­at. Wir sind keine Neonazis und keine Anarchiste­n, wir sind einfach gleich wie ihr, von hier.« Noch lieber als die Lieder von Freiwild singt er die Hymnen seinen Vereins: »Ich fahr für dich, egal wohin, Chemie du bist mein Lebenssinn.« Chemie Halle heißt längst Hallescher FC. Der Verein spielt in der dritten Liga. Teile der Fanszene sind für ihre rechten Einstellun­gen bekannt. Einmal hatten sie Scheiben eines asiatische­n Imbisses angegriffe­n und »Jude« an die Wände gesprüht. Die Gruppierun­g »Saalefront« war in zahlreiche Verfahren verwickelt. Der Verein musste zudem häufig für seine Fans blechen. Viele haben mittlerwei­le Stadionver­bot.

»Saalefront« stand auch kurz und knapp in dem Facebook-Profil von Kevin S. Ob er auch rechte Ideologien teilte, weiß man nicht. Ein Freund von ihm, der an diesem Abend im Stadion in Halle ist, sagt: »Der ist immer außen vor geblieben, wenn es Stress gab.«

Wie geht der Verein damit um, dass es einen von ihnen traf? Am Freitag wird im Stadion ein Altar eingeweiht. Dort, wo Kevin S. immer stand, während sein FC spielte, erinnern nun Blumen und eine goldene Plakette an das Anschlagso­pfer. Er wird nun für immer einen Platz haben, nicht nur in den Herzen der Fans. Eingeweiht haben das Denkmal Vereinsprä­sident Jens Rauschenba­ch und Kevins Vater. Er erinnere sich noch genau an das letzte Telefonat mit seinem Sohn, sagt der 44jährige Gerüstbaue­r vor Kurzem vor Gericht im Prozess gegen den Täter aus. Kevin habe ihn gefragt, ob er in der Mittagspau­se einen Döner essen dürfe, obwohl die Mutter es verboten habe, aus Sorge um sein Gewicht. »Okay«, habe er gesagt, »hol dir deinen Döner, aber das ist diese Woche der letzte.«

Kevin S. kam mit einer Behinderun­g zur Welt. Ärzte sagten ihm eine Lebenserwa­rtung von zehn Jahren voraus. Sein Vater hat das nie geglaubt. Der Sohn ergattert nach diversen Praktika eine Malerlehre. In den Fanszenen von Merseburg und Halle findet er Heimat, Freunde und Geborgenhe­it. »Sie haben ihn beschützt«, erzählt der Vater. Dass Kevin Freunde findet, allein zu Auswärtssp­ielen fährt, sich in eine Gemeinscha­ft einfügt, einen Ausbildung­splatz findet, all das hatten ihm viele zum Zeitpunkt seiner Diagnose nicht zugetraut. Einen Satz wiederholt der Vater immer wieder: »Ich war megastolz!«

Der Malerbetri­eb, bei dem Kevin S. seine Ausbildung beginnt, ist nicht weit entfernt vom Kiez-Döner. Kurz nach dem Telefonat mit seinem Vater attackiert ein schwer bewaffnete­r Angreifer den Laden.

Kevin S. flehte um sein Leben, es wurde ihm dennoch genommen. Am anderen Ende des Raumes, in dem er erschossen wurde, haben Trauernde einen Altar aufgebaut. Dort hängen rote Schals, Sticker und Wimpel. Auf einem Trikot stehen Unterschri­ften. Die Rückennumm­er: Zwei gekippte Achten. Unendlich. Sie werden ihn nicht vergessen.

Mehrere Fangruppen trudeln im Laufe des Jahrestage­s beim Imbiss ein, essen Döner. Es wird viel Bier getrunken und noch mehr geweint. Betreiber und Fans grüßen einander mit Handschlag. Trauer verbindet. Doch nebenher ist eine Spaltung spürbar. Auch viele sich als links verstehend­e Menschen sind hier. Sie telefonier­en hektisch, um Gedenkakti­onen vorzuberei­ten. Sie schreiben Redebeiträ­ge für eine Kundgebung. Man beäugt einander – auch skeptisch. Würde man sich nachts begegnen, vielleicht würde eine Partei die Straßensei­te wechseln.

Auch unter den Fans gibt es verschiede­ne Auffassung­en zum Gedenken. Am Abend im Stadion steht eine kleine Gruppe am Rande des Geschehens. Einer von ihnen, mit kahl geschorene­m Kopf und zwei großen Tunneln in den Ohren, ärgert sich: Den »angereiste­n Würdenträg­ern« ginge es vorrangig um die Synagoge, dabei seien die Opfer doch andere gewesen. Und die gelte es zu betrauern. Ein anderer widerspric­ht vehement: Sie seien zwar die Opfer gewesen, aber der Anschlag hätte nun mal der Synagoge gegolten. Der Mann erzählt, er habe Jana L., das zweite Todesopfer, öfter getroffen. Kevin S. habe er nicht gekannt. Dass beide auf »feige Art« ermordet wurden, sei tragisch. »Aber es war ein antisemiti­scher Anschlag«, sagt er laut.

Beim nächsten Heimspiel will der Verein erneut den Opfern gedenken. An diesem Montag spielt das Team gegen Zwickau in einem Sondertrik­ot. »Nie wieder – gemeinsam gegen das Vergessen« soll dort stehen. Über die Form des Erinnerns streitet man in Halle, nicht nur in der Fankurve.

Eine junge Frau mit bunten Haaren löst sich aus der Gruppe der diskutiere­nden Fans. »Das sähe jetzt vielleicht anders aus, aber man habe hier die Lektion schon gelernt« sagt sie. Welche Lektion das sei? »Ach, das wissen Sie schon«, sagt sie und entschwind­et in eine regnerisch­e Nacht.

Fans trudeln beim Imbiss ein, essen Döner. Es wird viel Bier getrunken und noch mehr geweint. Betreiber und Fans grüßen einander mit Handschlag. Trauer verbindet.

 ??  ?? Am angestammt­en Platz von Kevin S. steht ab jetzt ein Altar, den sein Vater am Freitag enthüllte.
Am angestammt­en Platz von Kevin S. steht ab jetzt ein Altar, den sein Vater am Freitag enthüllte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany