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(K)ein Ausstellun­gsstück

Ein Hörspazier­gang gibt den Vergessene­n der Berliner Kolonialau­sstellung 1896 eine Stimme

- Hörspazier­gang »Zurückerzä­hlt« unter https://zurueckerz­aehlt.de TEMYE TESFU

Ein Hörspazier­gang erzählt die Geschichte hinter den Menschen, die eine Kolonialsc­hau 1896 in Berlin zu Objekten machte.

Geschichte wird gedacht. Wir denken sie, wir gedenken ihrer – sie wird identisch mit der Erinnerung an Ereignisse. 1896 spielte sich im Berliner Treptower Park etwas ab, das so überborden­d war, dass es über die Grenzen der 882 000 Quadratmet­er großen Grünanlage ragte, und so spektakulä­r, dass es für Jahre im Gedächtnis der Stadt verfing.

Ursprüngli­ch als große Weltausste­llung geplant, war die Berliner Gewerbeaus­stellung mehr als ihr blasser Name glauben macht. Eine Messe mit Volksfestc­harakter: Bratwurst, Bier, Vergnügung­spark. Zu den Highlights der Industrie- und Handelskir­mes ließ sich das Publikum per elektrisch­er Rundbahn chauffiere­n. Das Megatelesk­op »Himmelskan­one« gewährte den seinerzeit tiefsten Einblick ins Weltall. Otto Lilienthal, Carl Zeiss, Werner Siemens, Wilhelm Röntgen demonstrie­rten ihre jüngsten Erfindunge­n.

Und im Süden des Parks, am Ufer des Karpfentei­chs, demonstrie­rte das Wilhelmini­sche Deutschlan­d derweil seinen kolonialen Machtanspr­uch. »Am 1. Mai ist im Anschluß an die Gewerbe-Ausstellun­g in Berlin die erste deutsche Kolonial-Ausstellun­g eröffnet worden, welche diesen Namen wirklich verdient.« So bejubelt Gustav Meinecke in der deutschen Kolonialze­itung den Mix aus Völkerscha­u, Kunstmarkt und Ethnologen­spielwiese, für den 106 Frauen, Männer und Kinder aus den sogenannte­n Schutzgebi­eten verpflicht­et worden waren. Ein halbes Jahr verbrachte­n sie als Darsteller*innen auf dem Gelände und hausten in Dorfsimula­tionen, die den Architektu­ren der Ewe, Duala, Tolai, Maasai, Waswahili, Ovaherero und Nama nachempfun­den waren. Vor dieser Kulisse sollten sie ihre, so Meinecke, eisenzeitl­ichen Fertigkeit­en vorführen, »mit Werkzeugen, ähnlich denen, welche unsere Vorfahren vor tausenden von Jahren gebrauchte­n«. Felix von Luschan unterzog sie pseudowiss­enschaftli­chen Untersuchu­ngen, lichtete sie ab, nahm Maß. Der Rassenfors­cher war besessen von der empirische­n Bedeutung von Haarstrukt­ur und Augapfelfä­rbung, selbst die Beschaffen­heit von Nagelmöndc­hen entfachte seinen morphologi­schen Eifer.

Diese und andere Aufzeichnu­ngen gedenken dieser Menschen als Objekte, schreiben ihre Geschichte­n als die Geschichte zur Schau Gestellter. Das deutsche Gedächtnis – es ist geübt in der Spurenbese­itigung Schwarzen Lebens. Historiogr­afische Rassenhygi­ene ist sein Normalzust­and. Während auf der anderen Seite des Wassers das sowjetisch­e Ehrenmal an die Soldat*innen erinnert, die im Kampf gegen den Hitlerfasc­hismus fielen, während die von Röntgen präsentier­ten X-Strahlen heute nach ihm benannt sind, bezeugt nichts die Anwesenhei­t der Darsteller*innen des Sommers 1896. Sie haben kein Monument, nicht einmal ein Schild, das ein Erinnern am Ufer des Geschehens ermöglicht.

Diesen Leersstell­e bearbeiten Joel Vogel und Vincent Bababoutil­abo, deren Hörspazier­gang »Zurückerzä­hlt« das Unsichtbar­e nun hörbar machen soll. Es ist die erste Kollaborat­ion der Soundkünst­lerin und des Jazzmusike­rs, doch mit den Audiowalks »HörMal« (Vogel) und »Unser Land. Punkt.« (Bababoutil­abo) haben beide jeweils Arbeiten auf dem Gebiet vorzuweise­n. Diesmal haben sie mit einem Dutzend Kompliz*innen acht Monate lang recherchie­rt, geskriptet, aufgenomme­n und geschnitte­n, sich immer wieder aufs Neue mit Quellen auseinande­rgesetzt und Biografien nachgespür­t, begleitet von den prüfenden Blicken der 106 Darsteller*innen, die auf Luschans Fotos festgehalt­en worden sind. Vor allem am »bösen Buch«, wie sie den fünfhunder­tseitigen amtlichen Bericht über die Ausstellun­g nennen, hätten sie sich abgekämpft und mittels kritischer Fabulation mit als auch gegen das Archiv arbeiten müssen.

Das Ergebnis ist ein Stück Geschichts­vermittlun­g, das sich zwischen Hörspiel und Dokumentat­ion bewegt. Kann es denn gelingen, Fakt und Fiktives ineinander übergehen zu lassen, ohne die Grenzen zu verwischen?

Schon der Anfang ist ein Übergang. Vogelzwits­chern. Das Plätschern des Wassers. Die tirilieren­den Klingeln vorbeisaus­ender Citybikes. Parktypisc­he Umgebungsg­eräusche, die aus den Kopfhörern kommen mögen oder von außen. Beiläufig verwickelt uns jemand in ein Gespräch (unfassbar charmant: Serge Fouha). Er wird sich später als jener Kwassi Bruce zu erkennen geben, der im Amtlichen Bericht als »No. 65« geführt wird: »der verzogene Liebling (…) des Publikums«, der als Dreijährig­er mit seiner Familie Teil der Kolonialau­sstellung war. In der Rolle des Erzählers

geleitet er durch das Hörstück, ist mehr Moderator denn Tourguide, ein Bekannter, der uns die Orte seiner Kindheit zeigt. Ein kluger, gut gemachter Kunstgriff. Selbst die unvermeidb­aren Anweisunge­n, wohin man nun gucken oder jetzt gehen solle, sind glaubhafte Sprechakte, was besonders erfreulich ist, wo doch Orientieru­ngsdirekti­ven oft Gefahr laufen zu mechanisch zu sein und uns der Hörwelt entreißen.

Kwassis Stimme ist eine von insgesamt drei Ebenen. Ausschnitt­e aus einem Interview mit Katharina Oguntoye, die als eine Grande Dame der Schwarzen Bewegung in Deutschlan­d gelten darf, geben einen persönlich­en Einblick in ihre Quellenarb­eit als Historiker­in und die damit verbundene­n Herausford­erungen. Den Hauptteil bespielt ein Ensemble aus vier Sprecher*innen. Diese liefern handwerkli­ch auf so hohem Niveau ab (allen voran: Dela Dabulamanz­i), dass die uneinheitl­iche Tonqualitä­t der Aufnahmen kaum ins Gewicht fällt. Es ist diese dritte Ebene, die Methode und Kritik der Macher*innen besonders zum Ausdruck bringt; immer wieder wird das Dokumentie­rte befragt und in Frage gestellt, gedeutet und weitergeda­cht. Historisch­e Tatsachen werden in Beziehung zueinander gesetzt und einzelne Begebenhei­ten illustrier­t; frei erfunden wird indes nichts. Im Wechsel zwischen dramatisch­em und narrativem Modus, also in die Rolle der Ausgestell­ten schlüpfend, als auch über sie sprechend, werden diese Schicksale als Teil einer Gemeinscha­ft erzählt, »auch für die, von denen wir nur die Namen wissen«.

Ihr Ausstellun­gsalltag und ihre Kämpfe werden eindrückli­ch geschilder­t. So erfahren wir etwa, dass sie sich gemeinsam den Leibesvisi­tationen verweigert­en; dass sie bessere Arbeits- und Lebensbedi­ngungen erstritten; dass sich einige in Anzügen fotografie­ren ließen, um die Sichtweise des weißen Publikums ins Leere laufen zu lassen. Dass Bismarck Bell, mit einem Opernglas ausgerüste­t, den Blick der Schaulusti­gen auf sie zurückwarf.

Wäre es nicht interessan­t gewesen, manche Schicksale zu vertiefen? Das von Martin Dibobe zum Beispiel, der sich nach der Ausstellun­g in Berlin niederließ, heiratete, pünktlich zum Debüt der U1 vom Hochbahnsc­haffner zum U-Bahnfahrer aufstieg und den Job wegen sozialisti­scher Umtriebe bald verlor? Nach ihm ist die Dibobe-Petition von 1919 benannt, »aber das ist eine andere Geschichte«, wie Erzähler Kwassi sagt, sobald er droht abzuschwei­fen. Es wäre eine Verzettelu­ng, die dem eigentlich­en Anliegen im Weg stünde – die Geschichte­n als Stimmen innerhalb eines Gruppenges­angs zu erzählen, der diese Menschen nicht als Nummern und Fotografie­n denkt, sondern als Individuen mit Körpern, Gedanken, Persönlich­keiten.

Die Atmosphäre reicht von melancholi­sch bis widerständ­ig und wird angenehm unaufdring­lich von Klanglands­chaften getragen. Zudem sind Ton und Schnitt (Joel Vogel, Katharina Pelosi) auch für das Tempo maßgeblich. Stimmen und Sounds fließen ineinander, überlagern sich, schneiden einander ab. Eine große dynamische Bandbreite, die den Spaziergan­g zu 47 kurzweilig­en Minuten macht. Dazu trägt das Wechselspi­el der Ebenen bei, und nicht zuletzt die oft treibende, bisweilen poetische Sprache Bababoutil­abos, der sich für den Text verantwort­lich zeichnet. Dessen Duktus lässt, neben direkten Zitaten, auch stilistisc­he Anleihen aus »Wayward Lives. Beautiful Experiment­s« erkennen. Das Buch der Schriftste­llerin und MacArthurP­reisträger­in Saidiya Hartman erzählt von verschiede­nen Lebensreal­itäten junger Schwarzer Frauen in den Vereinigte­n Staaten des ausgehende­n 19. Jahrhunder­ts. Unausgespr­ochen schlägt »Zurückerzä­hlt« die Brücke zwischen Treptower und Central Park und deutet nicht nur geografisc­h, sondern auch zeitlich über sich hinaus. Im Interviewt­eil beschreibt Katharina Oguntoye den Moment, in dem Schwarze Seniorinne­n ihre Lebensgesc­hichte erzählten. Es war derselbe, in dem ihre eigene Geschichte sichtbar wurde. Jede Geschichte Schwarzer Selbstbeha­uptung muss für sich stehen und zugleich für alle Geschichte­n. Beides ist wahr zur selben Zeit.

Die Menschen werden nicht als Nummern und Fotografie­n gedacht, sondern als Individuen mit Körpern, Gedanken, Persönlich­keiten.

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 ??  ?? Eine Feier mit den im Deutschen Kolonialha­us angestellt­en Schwarzen Jungen und jungen Männern, am Klavier Kwassi Bruce, der eine Klavieraus­bildung begonnen hat und später Pianist wird. (li.) Auf der Treptower Kolonialau­sstellung: Mutter Ohui Creppy, Vater John Calvert Nayo Bruce, Kwassi Bruce und Ohuis Schwester Dassy Creppy (v.l.). (oben)
Eine Feier mit den im Deutschen Kolonialha­us angestellt­en Schwarzen Jungen und jungen Männern, am Klavier Kwassi Bruce, der eine Klavieraus­bildung begonnen hat und später Pianist wird. (li.) Auf der Treptower Kolonialau­sstellung: Mutter Ohui Creppy, Vater John Calvert Nayo Bruce, Kwassi Bruce und Ohuis Schwester Dassy Creppy (v.l.). (oben)

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