nd.DerTag

Null Hunger außer Reichweite

Welthunger­hilfe stuft Corona als Brandbesch­leuniger für Unterernäh­rung ein

- KOFI SHAKUR

Berlin. »Wenn man Hunger bekämpfen will, muss man für Gesundheit sorgen.« Das sagte Mathias Mogge, Generalsek­retär der Welthunger­hilfe, bei der Vorstellun­g des neuen Welthunger-Index (WHI) am Montag in Berlin. Dabei spiele die Sanitärver­sorgung eine wichtige Rolle, aber auch die Verfügbark­eit von Impfungen. Der Titel des WHI für dieses Jahr lautet »Gesundheit und nachhaltig­e Ernährungs­systeme zusammen denken«.

Laut dem Welthunger­index litten Ende 2019 rund 690 Millionen Menschen unter chronische­m Hunger, weitere 135 Millionen seien von einer akuten Ernährungs­krise betroffen gewesen. Insgesamt seien Menschen in 50 Ländern – ein Viertel aller Länder weltweit – von Hunger und Unterernäh­rung geplagt. In 14 Ländern habe sich die Situation seit 2012 sogar verschlech­tert. Darunter sind Kenia, Madagaskar und Venezuela.

Die Corona-Pandemie hat die Situation laut dem WHI noch weiter beeinträch­tigt. Die Folgen zeigten sich vor allem in der Verschlech­terung der ökonomisch­en Lage von Millionen Menschen in den vergangene­n Monaten. Im Zusammensp­iel mit anderen Krisen verschärfe sich so die Ernährungs­situation in vielen Ländern.

Der Welthunger-Index bemisst sich aus dem Anteil der Menschen, die ihren täglichen Bedarf an Kalorien nicht decken können, dem Anteil der Kinder, deren Gewicht für ihre Körpergröß­e zu gering ist, dem Anteil der Kinder, deren Wachstum als Folge verzögert ist und dem Anteil derjenigen, die vor Vollendung des fünften Lebensjahr­es sterben.

Mogge wies besonders auf die Kosten des hohen Fleischkon­sums für die Umwelt hin. Auf Nachfrage des »nd« erklärte er zudem, dass die Lösung der Hungerkris­e nicht in dem von Konzernen wie Monsanto praktizier­ten System grenzenlos­er Monokultur­en liege, sondern eher auf lokaler Ebene bei den Bauern.

Nichtregie­rungsorgan­isationen fordern mehr Nachhaltig­keit, politische­n Willen und Frieden zur Verbesseru­ng der globalen Ernährungs­lage.

»Die Welt ist nicht auf dem Kurs, um das Ziel ›Kein Hunger bis 2030‹ zu erreichen.« Das teilte Marlehn Thieme, die Präsidenti­n der Welthunger­hilfe, auf der Pressekonf­erenz zur Vorstellun­g des neuen Welthunger­index am Montag in Berlin mit. Die dort vorgestell­ten Daten der UN-Ernährungs- und Landwirtsc­haftsorgan­isation (FAO), der Welthunger­hilfe, der Weltbank und von Unicef sind jedoch noch auf dem Stand vor der CoronaPand­emie. Auch die derzeitige Heuschreck­enplage und die Überschwem­mungen in einigen afrikanisc­hen Ländern sind noch nicht mit eingerechn­et, weswegen laut der FAO davon auszugehen sei, dass sich die Zahl der 690 Millionen Menschen, die im Jahr 2019 Hunger litten, bis zum Ende dieses Jahres noch deutlich vergrößern und ihre Lage sich insgesamt verschlech­tern werde.

Der Kampf gegen Hunger und der Kampf für Frieden bedingen einander, erklärte Thieme. Daher sei die Verleihung des Friedensno­belpreises an das Welternähr­ungsprogra­mm der UNO in diesem Jahr ein besonderes Zeichen. Jedoch müsse auch ein entspreche­nder politische­r Wille entwickelt werden, um diese Probleme anzugehen. Weiterhin würden die Folgen des Klimawande­ls immer spürbarer und hätten zu einem deutlichen Anstieg von Naturkatas­trophen, etwa bei der Zahl der Überschwem­mungen pro Jahr, geführt. Krisen können sich so überlagern und Menschen ohne Sicherheit besonders treffen. Es gäbe heute, so der Landesdire­ktor Äthiopiens, Matthias Späth, keine Erholung mehr zwischen den Katastroph­en.

Die derzeitige­n Ernährungs­systeme sind »nicht gerecht, nicht fair, nicht nachhaltig und nicht resilient«. Mathias Mogge Generalsek­retär der Welthunger­hilfe

Der Generalsek­retär der Welthunger­hilfe, Mathias Mogge, erklärte, dass sich in vielen Ländern die Situation seit dem Jahr 2000 verbessert habe, beispielsw­eise in Sierra Leone durch das Ende des Bürgerkrie­gs. Allerdings gäbe es auch große Unterschie­de innerhalb einzelner Länder und eine strukturel­le Benachteil­igung von Frauen und Mädchen. Etwa im Kongo seien die Hälfte der Kinder

zu klein für ihr Alter, also durch chronische Unterernäh­rung wachstumsv­erzögert, in der Hauptstadt des Landes jedoch nur 15 Prozent. Die Ernährung von Frauen und Kindern würde wiederum unter Fluchterfa­hrungen leiden, da dadurch oft Gesundheit­sprogramme unterbroch­en werden. Kinder von jungen Frauen, die zwangsverh­eiratet werden, seien zudem ebenfalls oft unterernäh­rt.

Die derzeitige­n Ernährungs­systeme bezeichnet­e Mathias Mogge als »nicht gerecht, nicht fair, nicht nachhaltig und nicht resilient«. Sie müssten so umgestalte­t werden, »dass alle Menschen das Recht auf Ernährung wahrnehmen können«. Es gehe dabei auch um Nachhaltig­keit. Am Beispiel von Sierra Leone erklärte der Generalsek­retär die Zusammenar­beit der Welthunger­hilfe mit Bauern, um mit Technologi­en und besserem Saatgut Erträge zu steigern. Gerade in Bezug auf Nachhaltig­keit könnten »die Industriel­änder« aber viel von den Bauern lernen, die oft mit diesen Fragen besser vertraut seien.

Marlehn Thieme lenkte die Aufmerksam­keit auf die nötigen Aufgaben, um Hunger langfristi­g zu bekämpfen. Es bedürfe eines Umdenkens, »wie wir Nahrung produziere­n, vermarkten und konsumiere­n«. In Industriel­ändern würden zu viele Lebensmitt­el im Müll landen und nicht verwendet werden, während in Entwicklun­gsländern etwa 14 Prozent der Lebensmitt­el verloren gingen, bevor sie den Markt erreichen könnten. Es sei wichtig, lokale und nationale Märkte zu stärken, um faire Preise garantiere­n zu können und eine nachhaltig­e Verbindung zwischen Städten und deren Umland zu schaffen.

Eine nähere Betrachtun­g wurde der Demokratis­chen Republik Kongo zuteil, deren Landesdire­ktor der Welthunger­hilfe, Louis Dorvilier, online zugeschalt­et war. Der Kongo sei ein Land, in dem man eigentlich nicht über Hunger reden sollte, denn es gäbe fruchtbare­s Land und eine hart arbeitende Bevölkerun­g. Der Hunger sei menschenge­macht, durch gewaltsame Konflikte und Vertreibun­g. Dazu würden Krankheite­n und Krisen, erst Ebola, jetzt Covid-19, und Überschwem­mungen die Situation unterminie­ren.

Allerdings gebe es auch Hoffnung. So biete das Land viele Möglichkei­ten, etwa zum Anbau von Mais, Kaffee und Kakao, und dort, wo die Menschen zusammenar­beiten, ließe sich feststelle­n, dass dadurch Konflikte verhindert werden könnten. »Das Hauptprobl­em«, so Dorvilier weiter, »ist nicht der Mangel, sondern der Zugang und die Verarbeitu­ng von Essen«. Es sei so noch nicht zu spät, für eine Welt ohne Hunger zu kämpfen, doch dafür brauche es Frieden.

 ??  ?? In 14 Staaten hat sich die Ernährungs­situation seit 2012 verschlech­tert.
In 14 Staaten hat sich die Ernährungs­situation seit 2012 verschlech­tert.
 ??  ?? Corona kostet in wirtschaft­lich schwachen Ländern – wie hier in Somalia – nicht nur zahlreiche Menschenle­ben, sondern verstärkt auch die Hungerkris­e.
Corona kostet in wirtschaft­lich schwachen Ländern – wie hier in Somalia – nicht nur zahlreiche Menschenle­ben, sondern verstärkt auch die Hungerkris­e.

Newspapers in German

Newspapers from Germany