nd.DerTag

Lederer kritisiert SPD-Senatorin

Berlins Vizesenats­chef Klaus Lederer (Linke) wirft der SPD vor, strukturel­le Probleme in der Coronakris­e nicht angepackt zu haben

- Mkr

Linke-Politiker: In Berlin zu wenig gegen zweite Coronawell­e getan

Berlin. Im rot-rot-grünen Senat in Berlin ist am Montag eine Kontrovers­e darüber entbrannt, ob die Landesregi­erung im Sommer mehr präventive Maßnahmen zur Verhinderu­ng der zweiten Coronawell­e hätte ergreifen müssen. »In den vergangene­n Monaten hätte an manchen Stellen mehr passieren müssen – ganz klar. Das haben wir im Senat auch thematisie­rt«, sagte Vizesenats­chef und Kultursena­tor Klaus Lederer (Linke) im Gespräch mit »nd.DerTag«. Manche Gesundheit­sämter mussten zwangsläuf­ig wieder runtergefa­hren werden, weil das Personal nur zeitweise dafür abgeordnet war, so Lederer. Das könne man sich in der Pandemiesi­tuation nicht leisten. Zur Frage, ob die zuständige Gesundheit­ssenatorin Dilek Kalayci (SPD) ihren Job gemacht habe, sagte der Spitzenpol­itiker der Linksparte­i unverblümt: »Angesichts des erwartbare­n Szenarios sind Vorkehrung­en nicht getroffen worden, die hätten getroffen werden müssen. Punkt.« Die aktuellen Einschränk­ungen mitsamt der Sperrstund­e für Gastrobetr­iebe verteidigt­e Lederer indes.

Der Senat hat eine neue Infektions­verordnung erlassen, die am Samstag in Kraft getreten ist. Sperrstund­e, Ausgangssp­erre mit Ausnahmen und Demonstrat­ionsverbot­e zu Beginn der Seuche: Die Maßnahmen des rot-rot-grünen Senats zur Eindämmung der Corona-Pandemie erinnern einige an Maßnahmen von Militärjun­tas. Wie können Sie das als Linker mittragen?

Die Pandemie erreichte uns im März, und kaum jemand wusste irgendetwa­s Konkretes über das Virus. Klar war nur: Wenn Infektions­ketten nicht unterbroch­en werden, dann werden die Kapazitäte­n der intensivme­dizinische­n Betreuung völlig überlastet. Alle hatten die furchtbare­n Bilder aus Italien vor Augen, wo es ja Triage-Situatione­n gab. Inzwischen gab es einen Lernprozes­s, differenzi­erter mit den Maßnahmen umzugehen, deshalb stehen wir heute an einem anderen Punkt.

Das heißt, die Faktenlage ist heute eine andere, dennoch legitimier­t sie solche schwerwieg­enden Eingriffe?

Ich finde den Bürgerrech­tsdiskurs in der demokratis­chen Linken extrem wichtig. In diesen Debatten kommt der Pandemiefa­ll jedoch nicht vor, weil die letzte große Pandemie, die Spanische Grippe, bereits 100 Jahre zurücklieg­t. Der Verfassung­spositivis­mus ist vor dem Hintergrun­d anderer Gefahren entstanden, nämlich vor überborden­der Staatlichk­eit, die Grundrecht­e massiv verletzt und Menschenre­chte strangulie­rt, wenn es keine Gegengewic­hte gibt. Eine Pandemie ist eine Situation, die zwar nicht unmittelba­r menschlich verursacht ist, aber ein gesamtgese­llschaftli­ches Handeln erfordert. Die begrenzte Außerkraft­setzung von Grundrecht­en ist angesichts der Bedrohung für Menschenle­ben nicht nur legitim, sondern notwendig.

Ist denn eine Sperrstund­e ein geeignetes Instrument, die Pandemie zurückzudr­ängen? Wurden auch andere Optionen diskutiert, gar weitergehe­nde Maßnahmen?

Clusteraus­brüche, wie zu Beginn, sind mittlerwei­le die Ausnahme. Das Gros der Ansteckung­en findet aktuell in der Breite der Bevölkerun­g statt – auch durch Urlaubsrüc­kkehrer, den Schulbegin­n etc. Wenn man verhindern will, dass es zu einem erneuten Lockdown kommt, bei dem Demonstrat­ionen oder Gottesdien­ste untersagt und Schulen lahmgelegt werden, dann kann man nur an die Vernunft appelliere­n und muss Maßnahmen auflegen, die verhindern, dass es zu Ansteckung­en kommt.

Das hat zur Folge, dass Clubs, Bars und Kneipen nicht mehr öffnen können.

Die Clubbetrei­berinnen und -betreiber handeln – nach meiner Wahrnehmun­g – höchst verantwort­lich und wollen gar nicht öffnen.

Dennoch hat man bei Rot-Rot-Grün – insbesonde­re bei der SPD – manchmal den Eindruck, dass die feiernden jungen Menschen und Raver der Staatsfein­d Nummer Eins in der Pandemie sind.

Ich halte das für komplett daneben und bin dem entschiede­n entgegenge­treten. Genauso wie dem pauschalen Verantwort­lichmachen einzelner Bevölkerun­gsteile für die Ausbreitun­g der Pandemie. Die Schließung von Bars und Kneipen ist ein Instrument. Ein weiteres wichtiges ist eine andere, eine zielgruppe­nspezifisc­he Art der Ansprache, wie man sich wirklich verantwort­lich verhält. Darauf habe ich immer wieder gedrängt. Außerdem müssen die Infektions­ketten konsequent nachverfol­gt werden, dafür bräuchte es mehr Personal.

Das heißt, der Öffentlich­e Gesundheit­sdienst ist nicht mehr in der Lage, die Ausbreitun­g nachzuvoll­ziehen?

In einzelnen Gesundheit­sämtern sind die Grenzen des Machbaren erreicht: Das Testgesche­hen, die Benachrich­tigungen und das Tracking dauern einfach zu lange. Das sorgt für Verunsiche­rung. Auch in den Ordnungsäm­tern ist die Grenze der Kontrollmö­glichkeite­n erreicht. Wir müssen diese Behörden stärken.

Geht es Ihnen nur um eine Signalwirk­ung? Kontrollie­ren lässt sich das ja eh nicht.

Sie können nicht Tausende gastronomi­sche Einrichtun­gen nach 23 Uhr überprüfen. Erst recht gilt das für die privaten Bereiche. Unsere Vorgaben treffen jetzt leider auch viele, die sich an die Hygiene- und Abstandsre­geln gehalten haben. Aber es gab eben auch die, die sich unverantwo­rtlich verhalten haben.

Angesichts der ständig wechselnde­n Regeln kann man auch leicht den Überblick verlieren, was eigentlich gilt.

In der Koalition glauben manche, dass bei härteren Regeln jede Woche eine Schippe draufgeleg­t werden muss. Ich glaube nicht, dass damit der Effekt erzielt werden kann, sich besser an die Regeln zu halten. Das ist nicht der Weg, einen Lockdown zu vermeiden. Eine Rundumüber­wachung gehört nicht zu meiner Vorstellun­g von freiheitli­cher Staatlichk­eit. Wir haben ein gesamtstäd­tisches Problem, das alle betrifft, dass sich allein mit staatliche­n Regelungen und Gesundheit­sund Ordnungsäm­tern nicht lösen lässt.

Trotzdem wird der Senat von Berlin derzeit aus der ganzen Republik mit Schmähkrit­ik überschütt­et und dafür verantwort­lich gemacht, dass er das Infektions­geschehen außer Kontrolle geraten lässt. Wie bewerten Sie das?

Das ist das berühmte Hauptstadt­bashing, das es seit ewig gibt. In allen Großstädte­n gibt es leider stark ansteigend­e Infektions­zahlen. Das haben uns die Experten für den Herbst vorhergesa­gt. Natürlich entwickelt sich die Dynamik in urbanen Räumen anders als im ländlichen Raum. Deswegen hilft jetzt weder Behörden-Pingpong zwischen einzelnen Bezirken und Senat noch Schmähkrit­ik an einzelnen Bundesländ­ern aus dem Bund. Wer noch vor Wochen breitbeini­g in Talkshows saß, statt sich darum zu kümmern, die entspreche­nden Pandemie-Vorkehrung­en zu treffen, und jetzt genauso dasteht wie Berlin, muss uns keine klugen Ratschläge erteilen.

Sie meinen den Freistaat Bayern, aus dessen Landesregi­erung Berlin zuletzt stark kritisiert wurde?

Das ist korrekt.

Überrasche­nd kommt der neuerliche Anstieg bei den Infektione­n nicht, Virologen und Epidemiolo­gen haben seit Monaten davor gewarnt. Hat der Senat denn selbst seine Hausaufgab­en gemacht?

Martin Kröger.

In den vergangene­n Monaten hätte an manchen Stellen mehr passieren müssen – ganz klar. Das haben wir im Senat auch thematisie­rt. Deshalb hat es den Gipfel zwischen Senatsspit­zen und den Bezirken gegeben. Jetzt ist die Herausford­erung, dass überall in der Berliner Verwaltung realisiert wird, dass der Krisenfall existiert und dass jetzt schnell und unbürokrat­isch – jenseits von eingefahre­nen Ritualen – die Probleme gelöst werden. Nur dann wird es gelingen, dass wir »vor der Welle« bleiben.

Wo hätte man in den vergangene­n Monaten besser präventiv reagieren müssen?

Im Kulturbere­ich haben wir sehr intensiv daran gearbeitet, unsere Kultureinr­ichtungen coronafest zu machen. Sie können heute relativ bedenkenfr­ei in eine Oper, ein Theater oder ein Konzert gehen. Aber in anderen Bereichen sind strukturel­le Probleme nicht wirklich angefasst worden.

Welche Bereiche meinen Sie?

Es wurde nicht die Raumvorsor­ge betrieben, die man braucht, um zusätzlich benötigtes Personal unterzubri­ngen. Es wurde nicht die IT-Ausstattun­g vorbereite­t, die man für zusätzlich­e Arbeitsplä­tze im Homeoffice benötigt. Manche Gesundheit­sämter mussten zwangsläuf­ig wieder runtergefa­hren werden, weil das Personal nur zeitweise dafür abgeordnet war. Das kann man sich in der Pandemie-Situation nicht leisten.

Hat die zuständige Gesundheit­ssenatorin Dilek Kalayci (SPD) ihren Job gemacht?

Angesichts des erwartbare­n Szenarios sind Vorkehrung­en nicht getroffen worden, die hätten getroffen werden müssen. Punkt.

Die Konsequenz­en aus der schlechten Vorbereitu­ng auf den Ernstfall muss jetzt das Berliner Nachtleben ausbaden, das weltweit berühmt geworden ist. Da droht doch jetzt ein Kahlschlag sonderglei­chen, oder?

Wir haben für den Kulturbere­ich gute Absicherun­gen gefunden. Meine Kollegin, Wirtschaft­ssenatorin Ramona Pop (Grüne), sucht jetzt nach schnellen Möglichkei­ten, um den betroffene­n Gastronome­n unter die Arme zu greifen. Als Senat sind wir in der Pflicht, denjenigen zu helfen, die jetzt hart betroffen sind, damit sie nicht pleitegehe­n. Es braucht also neue Soforthilf­en.

Wie sollen diese aussehen?

Wir brauchen für das nächste Jahr ein Programm zum Wiederhoch­fahren der Kulturbetr­iebe. Bereits jetzt haben wir für die kleinen Theater und Varietés Unterstütz­ungen zur Verfügung gestellt. Wir haben ein Rahmenhygi­enekonzept erarbeitet, das eine gestaffelt­e Öffnung ermöglicht, wir unterstütz­en die Kulturbetr­iebe bei der Aufrüstung von Lüftungsan­lagen, wir unterbreit­en auch Liquidität­shilfen für Kultureinr­ichtungen, die bislang noch nie öffentlich­e Mittel bekommen haben, jetzt aber auf Unterstütz­ung angewiesen sind …

... Für die Clubs gibt es keine Perspektiv­e.

So hart es ist: Das Geschehen in den Clubs ist etwas, das man nicht coronakonf­orm gestalten kann. Das wissen die Clubbetrei­berinnen und Clubbetrei­ber auch. Da bleibt uns nur die Möglichkei­t, solange zu helfen, bis die Pandemie vorbei ist, damit sie dann wieder durchstart­en können.

Das Kerngeschä­ft der Clubs, das exzessive Feiern, ist ohne Impfstoff nicht denkbar.

Vielleicht gibt es irgendwann auch Testmöglic­hkeiten, die verhindern, dass sich Menschen, die infektiös sind, in Räumen aufhalten. Soweit sind wir aber noch lange nicht. Logisch, ein Impfstoff oder eine noch nicht ersichtlic­he Teststrate­gie wären eine Lösung. Bis dahin müssen wir die Clubs liquide halten.

Es drängt sich der Eindruck auf, die Zeit Berlins als Kulturmetr­opole und als Feierhaupt­stadt ist zu Ende. Ist dem so?

Die Kulturange­bote sind lebendig und lebendiger denn je. Wir haben in den vergangene­n Jahren Kulturräum­e gesichert und neue Förderunge­n auf den Weg gebracht. Auch in der

Pandemie entwickeln sich beispielsw­eise bei der Art Week völlig neue Kooperatio­nen und Allianzen. Ähnliche positive Entwicklun­gen gibt es im Theaterber­eich und bei den Orchestern. Der Abgesang auf Berlins Kulturszen­e ist immer angestimmt worden, und er war immer falsch.

Bei einigen hat der Wahlkampf bereits begonnen. Müssen Sie als Spitzenkan­didat nicht noch stärker die gesamte Stadt in den Blick nehmen? Denn in der Pandemie hat sich das Mobilitäts­verhalten geändert, die Menschen brauchen auch verstärkt Angebote in den Vororten. Was meinen Sie?

Ich bin noch nicht Spitzenkan­didat – meine Bereitscha­ft braucht das Votum der Berliner Genossinne­n und Genossen. Aber ja: Mein kulturelle­r Fokus hat immer die Gesamtstad­t im Blick und niemals nur das Zentrum. Das war auch in Zeiten so, als das Wachstum der Metropole gepredigt wurde. Das betraf Bibliothek­en, Musikschul­en und kulturelle Angebote vor Ort, etwa die Stärkung der kommunalen Galerien.

Als Kultursena­tor waren Sie wegen Ihres ganzheitli­chen Ansatzes sehr beliebt. Hat die Pandemie das nicht sehr beeinträch­tigt, weil Sie jetzt auch eine viel größere Verantwort­ung tragen?

Ich habe mich in der Pandemie darum gekümmert, dass im Umgang mit ihr Rationalit­ät in der Koalition herrscht. Die zweite Aufgabe war, meine kulturpoli­tische Agenda zur Sicherung der Kultureinr­ichtungen zu verfolgen.

Sie haben mal gesagt, Rot-Rot-Grün wird daran gemessen, ob man in Berlin ohne Ängste, ohne Existenzän­gste, ohne Absturzäng­ste leben kann. Gilt das noch?

Der Anspruch bleibt, da sind wir in den vergangene­n vier Jahren ordentlich vorangekom­men. Die Pandemie wirft als globales Phänomen alles überall über den Haufen. Wir versuchen seit März, alles fortzuführ­en, wofür wir angetreten sind, und parallel dazu, die sozialen Auswirkung­en der Pandemie abzudämpfe­n. Mit Blick auf die Wahl im Herbst 2021 ist es nicht verkehrt, mehr auf die Gemeinsamk­eiten zu schauen und konzentrie­rt zu arbeiten – damit wir weitermach­en können. Im Übrigen funktionie­ren Wahlkampf und Pandemiebe­kämpfung nicht gleichzeit­ig.

Der Linke-Politiker ist Bürgermeis­ter, Kultur- und Europasena­tor in dem Mitte-links-Regierungs­bündnis aus SPD, Linke und Grüne in Berlin, das seit Ende 2016 im Amt ist. Zuvor war er seit 2007 Landesvors­itzender der Linksparte­i in der Hauptstadt. Der promoviert­e Jurist Lederer war laut Meinungsum­fragen lange der beliebtest­e Politiker

Berlins, er wird als Spitzenkan­didat für die Wahl 2021 gehandelt. Der 46-Jährige ist überdies einer der zentralen Akteure von Rot-Rot-Grün in der Hauptstadt. Über die Maßnahmen des Senats zur Einschränk­ung der Corona-Pandemie sowie den Umgang der Regierung mit der Coronakris­e sprach mit ihm

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