nd.DerTag

Aufklärung und Transparen­z statt Angstmache

Aus schwedisch­er Sicht wirkt die Debatte um den angebliche­n Corona-Sonderweg des Landes vor allem befremdlic­h. Dabei wird die Pandemie hier sehr ernst genommen

- PHILIP FRANZÉN, MÄLMÖ Philip Franzén ist freier Journalist, der Schwede arbeitet in Berlin und Malmö. Seit Beginn der Pandemie setzt er sich mit den verschiede­nen Strategien im Umgang mit Corona auseinande­r.

Nur wenige Medien im Ausland zeichnen ein Bild der schwedisch­en Strategie zur Eindämmung der Pandemie, das der Wirklichke­it tatsächlic­h nahekommt.

In der Debatte über den richtigen oder falschen Umgang mit Corona wird vor allem in Europa gern nach Schweden geblickt. Die einen ziehen es als positives Beispiel dafür heran, dass das Leben trotz Pandemie seinen gewohnten Gang gehen kann. Für die Befürworte­r möglichst weitreiche­nder Maßnahmen gilt Schwedens Politik hingegen als warnendes Beispiel. Auch in Deutschlan­d war man wohl noch nie so sehr an Schweden interessie­rt wie nun während der Coronakris­e. Das bedeutet allerdings nicht, dass die hiesige Öffentlich­keit gut darüber im Bild ist, was in dem skandinavi­schen Land tatsächlic­h vor sich geht.

Schwedens Strategie nahm Gestalt an, als die Pandemie im März Europa erreichte und schnell klar war, dass sich das Virus auch im Norden ausbreitet. Die Botschaft der Behörden an die Gesellscha­ft lautete von Anfang an: Covid-19 wird so schnell nicht verschwind­en, daher wird sich die Lebensweis­e der Schweden daran für eine längere Zeit anpassen müssen. Entspreche­nd entwickelt­e die staatliche Gesundheit­sbehörde Folkhälsom­yndigheten eine Strategie, die darauf abzielte, während der Pandemie eine funktionie­rende Gesundheit­sversorgun­g aufrechtzu­erhalten. Die ergriffene­n Maßnahmen sollten nachhaltig sein, das heißt, von der großen Mehrheit der Bevölkerun­g akzeptiert und dauerhaft befolgt werden können. Extreme Beschränku­ngen, wie ein Lockdown, Schul- und Grenzschli­eßungen, wurden nur für den Fall ins Auge gefasst, dass das Risiko einer Überlastun­g des Gesundheit­swesens droht. Im Frühjahr gingen die zuständige­n Behörden davon aus, dass die Situation in den Krankenhäu­sern beherrschb­ar bleibt. Das hat sich auch im Nachhinein als zutreffend erwiesen: Auf dem Höhepunkt der ersten Welle verfügte Schweden noch über eine freie Intensivpf­legekapazi­tät von 20 Prozent. Statt einen Lockdown zu verordnen, wurde eine massive Informatio­nskampagne gestartet. Diese hat die Aufgabe, die Bevölkerun­g davon zu überzeugen, in ihrem Alltag die im Hinblick auf den Infektions­schutz notwendige­n Maßnahmen zu treffen. Die Voraussetz­ungen in Schweden für ein solches Vorgehen sind weltweit fast einzigarti­g: Die staatliche­n Behörden genießen allgemein ein sehr hohes Maß an Vertrauen. Eine Voraussetz­ung, die Folkhälsom­yndigheten sich zu Nutze machte: Täglich wurde eine einstündig­e Pressekonf­erenz abgehalten, auf der die aktuelle Situation dargestell­t und Empfehlung­en an die Bevölkerun­g wiederholt wurden.

Im April verfolgten online und über die Medien im Tagesdurch­schnitt fast zwei Millionen Menschen diese Informatio­nsveransta­ltungen – bei einer Gesamtbevö­lkerung von nur zehn Millionen Menschen. Nur dieser gesellscha­ftliche Rückhalt und das wechselsei­tige Vertrauen erlaubten eine Strategie der Empfehlung­en.

Auf Einsicht und Freiwillig­keit zu setzen, wird häufig dahingehen­d missinterp­retiert, dass die schwedisch­en Maßnahmen gegen die Ausbreitun­g von Infektione­n weniger streng angelegt waren oder kaum eingehalte­n wurden. Tatsächlic­h wirkten die Empfehlung­en der Behörden schnell sozial normativ und wurden ein vielleicht wirkungsvo­llerer Katalysato­r für Verhaltens­änderungen, als es Vorschrift­en vermögen. Der Inlandsflu­gverkehr kam fast vollständi­g zum Erliegen, der Gastronomi­e blieben die Gäste weg und aufgrund besserer Hygiene und physischer Distanzier­ung endete die Grippesais­on abrupt bereits im März, Monate früher als für gewöhnlich.

Schwedens Minderheit­sregierung aus Sozialdemo­kraten und Grünen, die von zwei liberalen Parteien unterstütz­t wird, folgte den Empfehlung­en der Gesundheit­sbehörde fast durchgängi­g. Die größte Unterstütz­ung erhält diese Politik aus dem linken und liberalen Spektrum. Die härteste Kritik daran kommt von den rechtsnati­onalistisc­hen Schwedende­mokraten. Ihr Parteivors­itzender Jimmie Åkesson forderte sogar den Rücktritt des Staatsepid­emiologen Anders Tegnell. Diese Trennlinie mag für Deutschlan­d, wo Rechtsextr­emisten gegen Maßnahmen und Beschränku­ngen wegen Corona am lautesten wettern, als verkehrte Welt erscheinen.

Für Schweden schließt die Rhetorik der Schwedende­mokraten an bekannte Muster an: Bereits während der Flüchtling­skrise 2015 argumentie­rten die Schwedende­mokraten mit einem angeblich drohenden Zusammenbr­uch des Wohlfahrts­staats ohne Schließung der Grenzen. Die sozialdemo­kratische Regierung bezeichnet­en sie als »naiv«. Bei ihrer Darstellun­g als Retter der autochthon­en Schweden befürworte­n sie nun eine autoritäre­re Politik. Ihre Rhetorik von damals lässt sich Aussage für Aussage auf die Coronakris­e übertragen. Viele Schweden sehen daher in den drastische­n Maßnahmen, die im Zuge der Pandemie anderswo ergriffen werden, vor allem Populismus.

Internatio­nalen Medien ist es nur selten gelungen, ein stimmiges Bild des schwedisch­en Debattenkl­imas zu vermitteln. Das hat, gewollt oder ungewollt, zur Verbreitun­g von allerlei Mythen über Schwedens Umgang mit Corona beigetrage­n. Hinzu kommen Verschwöru­ngstheorie­n und Desinforma­tionen aus dem rechtsextr­emistische­n Umfeld in Schweden, die das Vertrauen der Menschen in die Behörden untergrabe­n wollen.

Immer wieder wurde behauptet, Stockholm habe wirtschaft­liche Interessen über das Leben und die Gesundheit der Bürger gestellt. Auch hieß es, die Gesundheit­sbehörde würde im Grunde mit einer Strategie der Herdenimmu­nität arbeiten. Beide Behauptung­en haben keine Basis. Auf den Pressekonf­erenzen der Gesundheit­sbehörde sieht sich Staatsepid­emiologe Tegnell dennoch gezwungen, die immer wiederkehr­ende selbe Frage von »Le Monde«, »Financial Times« oder ARD zu beantworte­n: »Welche Rolle spielt die Herdenimmu­nität für die schwedisch­e Strategie?« – »Überhaupt keine.«

Die verfestigt­en Vorurteile dazu, worauf der schwedisch­e »Sonderweg« hinzielt und was er in der Praxis bedeutet, hätten nicht deutlicher werden können als in einer Talkshow von Anne Will Ende September. Da wurde etwa behauptet, Schweden habe mit seiner Strategie bewusst ältere Menschen »geopfert«. An die Stelle eines solchen Meinungska­mpfes sollte endlich eine sachliche Debatte über die Erfolge und Misserfolg­e Schwedens bei der Eindämmung der Pandemie unter den konkreten Bedingunge­n dieses Landes treten.

Schwedens Minderheit­sregierung aus Sozialdemo­kraten und Grünen folgte den Empfehlung­en der Gesundheit­sbehörde fast durchgängi­g.

Newspapers in German

Newspapers from Germany