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»Die Gefahr, dass man abstumpft«

Das neue Fernsehfor­mat »Die Narbe« verarbeite­t große Katastroph­en und Unglücksfä­lle, indem auch Zeitzeugen zu Wort kommen. Ein Gespräch mit der Journalist­in und Moderatori­n Anja Reschke über Traumata und die Folgen

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In Ihrem Doku-Talk »Die Narbe« schildern Sie die Folgen tragischer Unfälle wie in Eschede oder Ramstein. Warum bewegen uns solche medienwirk­samen Ereignisse so sehr, während weit schlimmere, aber schwerer sichtbare – wie Klimawande­l und Rassismus – viele Menschen seltsam kalt lassen?

Weil uns die großen Unglücke, bei denen Menschen zu Schaden kommen oder sogar sterben, auf einen Schlag die eigene Verletzlic­hkeit vor Augen führen – dass wir alle jederzeit sterben können, also endlich sind. Jeder von uns hätte schließlic­h in die Karambolag­e auf der A19 geraten, jeder im Zug durch Eschede sitzen, jeder in Ramstein gewesen sein können.

So gesehen würde aber doch jeder plötzliche Todesfall im Haushalt, bei der Arbeit, unterwegs zur Spitzenmel­dung taugen?

Wenn es in einer Ausnahmesi­tuation geschieht, tut es das ja auch. Allerdings eher auf regionaler Ebene, wo das Einzelschi­cksal bedeutsame­r ist. Nehmen Sie Radfahrend­e, denen abbiegende Lkws im Stadtverke­hr mit fatalen Folgen die Vorfahrt nehmen; das ist immer wieder Teil der Lokalnachr­ichten. Unsere Endlichkei­t wirkt darin sogar noch unmittelba­rer.

Lassen Sie sich als profession­elle Berichters­tatterin emotional von Ereignisse­n dieser Art beeinfluss­en?

Als Mensch berühren sie mich wie alle anderen auch. Angesichts der Fülle von Katastroph­en besteht allerdings die Gefahr, dass man ein wenig abstumpft. Aber ich bin ja keine Polizeirep­orterin, die jeden Tag mit dem Tod zu tun hat. Außerdem gibt es kaum etwas Individuel­leres als Traumata, die jeder auf eigene Art verarbeite­t. Das zeigt sich auch sehr eindrucksv­oll in den Dokumentat­ionen, die wir über das Zugunglück von Eschede, die Flugschauk­atastrophe von Ramstein und den Sandsturm auf der A19 gemacht haben.

Welche Ereignisse sind Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?

Ich glaube, das sind immer Schiffsung­lücke. Keine Ahnung, warum genau. Vor 26 Jahren hat mich zum Beispiel der Untergang der »Estonia« mit 852 Toten zutiefst erschütter­t. Allein die Vorstellun­g, im Bauch eines Schiffes eingeschlo­ssen zu sein und in diesem eiskalten Wasser unterzugeh­en, ist fürchterli­ch. Zumal da auch Schulklass­en dabei waren. Als die »Estonia« unterging, war ich selbst noch in der Schule.

Hat das bei Ihnen Narben hinterlass­en?

Es wirkt zumindest insofern bei mir nach, als ich bis heute sehr ungern mit Fähren fahre. Und eine Kreuzfahrt käme für mich erst recht nicht infrage. Vielleicht habe ich aber auch zu viel über den Untergang der Titanic gelesen.

Um die gesellscha­ftlichen Narben solcher Katastroph­en zu zeigen, wählt der NDR eine ungewohnte Mischung aus Dokumentat­ion und Talkshow. Doch warum liegt der Gesprächsa­nteil bei lediglich einem Viertel der Zeit?

Anfangs dachte ich auch, er müsste länger sein. Beim Ansehen fand ich es dann aber richtig. Wir probieren jetzt erst einmal aus, ob die Leute sich überhaupt auf dieses Mischforma­t einlassen. Das ist ein Experiment.

Haben Sie sich in der Rolle als Talkhost wohlgefühl­t?

Ihre Frage klingt jetzt, als hätte es nicht so gewirkt.(lacht)

Doch, doch. Aber obwohl Sie viele Interviews führen, ist die Rolle doch neu für Sie.

Nicht wirklich. Fragen stellen, sich über ein Thema unterhalte­n, das sind doch eigentlich journalist­ische Grunddiszi­plinen. Außerdem habe ich ja grad mehr als 30 Folgen des »After Corona Club« gemacht. Ein Gesprächsf­ormat, in dem ich mich mit Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftlern der unterschie­dlichsten Diszipline­n darüber unterhalte­n habe, was aus der Coronakris­e entstehen und welche Folgen sie haben könnte.

Heißt das, Sie würden dieses Standbein gern mehr bespielen?

Wenn Sie mich so fragen, lautet die Antwort ja. Mir fehlen im Fernsehen diese Eins-zueins-Gespräche früherer Tage, also keine Talkrunden, sondern richtige Unterhaltu­ngen. In Podcasts erleben die gerade eine Renaissanc­e. Wenn sich dieser Trend im Fernsehen fortsetzt – ich wäre bereit!

»Die Narbe« läuft ab dem 14. Oktober immer mittwochs um 21 Uhr auf NDR.

 ??  ?? Am 8. April 2011 kam es auf der A19 bei Rostock zu einem schrecklic­hen Massenunfa­ll. Der Auslöser war ein Sandsturm.
Am 8. April 2011 kam es auf der A19 bei Rostock zu einem schrecklic­hen Massenunfa­ll. Der Auslöser war ein Sandsturm.
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