nd.DerTag

Es braucht ein Ende der Freiwillig­keit

AWO und SoVD fordern verbindlic­he europäisch­e Mindeststa­ndards für soziale Sicherungs­systeme

- LISA ECKE

Mehr als 109 Millionen Menschen in der EU sind von Armut bedroht. Sozialverb­ände fordern deshalb konkrete Ziele und Maßnahmen zur Armutsbekä­mpfung auf europäisch­er Ebene.

Der Sozialverb­and Deutschlan­d (SoVD) und die Arbeiterwo­hlfahrt (AWO) verlangen anlässlich der deutschen EU-Ratspräsid­entschaft gesamteuro­päische Lösungen für soziale Fragen. Am Montag stellten sie auf einer digitalen Veranstalt­ung ihre politische­n Forderunge­n vor. Seit Anfang Juli hat Deutschlan­d für sechs Monate die Präsidents­chaft im Rat der Europäisch­en Union übernommen. SoVD und AWO wollen, dass Deutschlan­d während dieser Präsidents­chaft dem Kampf gegen Armut eine »weitaus höhere Priorität einräumt«.

Auf der Veranstalt­ung nahmen auch EUKommissa­r Nicolas Schmit von der LSAP, einer sozialdemo­kratischen Partei in Luxemburg, und Bundessozi­alminister Hubertus Heil (SPD) teil. Letzterer betonte, wie wichtig die europäisch­e und deutsche Verantwort­ung besonders im Hinblick auf die Frage sei, was gegen Armut in der Erwerbstät­igkeit getan werden könne. Schmit werde einen

Vorschlag für einen europäisch­en Rahmen für Mindestlöh­ne in Europa machen, Deutschlan­d wolle diesem Vorhaben mit der Ratspräsid­entschaft einen guten Start geben, so Heil. Am Mittwoch werde es laut Heil im Rahmen der europäisch­en Arbeitsmin­isterkonfe­renz zu Fortschrit­ten bei der Armutsbekä­mpfung kommen.

Durch die Moderation der Veranstalt­ung wurde der Eindruck großer Zuversicht in Heils Worte vermittelt. In Anbetracht dessen, dass die AWO der SPD nahesteht, kaum verwunderl­ich. Heils Ministeriu­m hatte allerdings erst kürzlich einen Gesetzesen­twurf verfasst, indem sich Deutschlan­d nicht der kompletten revidierte­n EU-Sozialchar­ta verpflicht­ete, sondern ausgerechn­et den Schutz vor Armut ausgeschlo­ssen hat. Vergangene­n Donnerstag wurde dieser Gesetzentw­urf vom Bundestag beschlosse­n.

AWO und SoVD fordern in ihrer gemeinsame­n Erklärung von Montag eine konsequent­e Umsetzung sozialer Rechte. Dafür müssten verbindlic­he Rechtsansp­rüche abgeleitet werden. »Instrument­e wie die Europäisch­e Säule sozialer Rechte sind begrüßensw­ert, bleiben aber reine Absichtser­klärungen. Wir brauchen Lösungen, die bei den Menschen ankommen«, sagte AWO-Bundesgesc­häftsführe­r

Jens M. Schubert. Die Defizite würden etwa bei der Situation von Kindern und Jugendlich­en deutlich werden: »Es ist nicht hinnehmbar, dass unsere Jugend im Europa des 21. Jahrhunder­ts um die Erfüllung elementare­r Bedürfniss­e kämpfen muss«, kommentier­te Schubert die Forderunge­n.

Jens M. Schubert

Bereits vor der Coronakris­e waren in der EU mehr als 109 Millionen Menschen von Armut und sozialer Ausgrenzun­g bedroht. Fast jedes vierte Kind in der EU ist davon betroffen. Durch die Coronakris­e werde die schwierige soziale Lage Europas noch verschärft. Neben den Reden von Heil und Schmit fand auf der Veranstalt­ung auch eine Podiumsdis­kussion statt, auf der unter anderem die Frage diskutiert wurde, ob eine Kindergara­ntie, ein europäisch­er Mindestloh­n oder eine europäisch­e Mindestsic­herung Priorität haben sollte. »Bei der Mindestsic­herung

geht es um das unterste, das allerunter­ste soziale Netz. Das macht es so bedeutend«, sagte etwa Benjamin Benz, Professor an der Evangelisc­hen Hochschule Rheinland Westfalen-Lippe. Natürlich seien Mindestlöh­ne im Kampf gegen Armut extrem wichtig, aber bei der Mindestsic­herung gehe es um das soziale Fundament, auf dem Europa aufgebaut werden müsste.

Erika Biehn von der nationalen Armutskonf­erenz, als einzige Teilnehmer­in der Veranstalt­ung selbst einmal von Armut betroffen, pflichtete Benz bei. Die Mindestgru­ndsicherun­g sei der wesentlich­ste Punkt und müsse so schnell wie möglich kommen. Sie forderte auch, dass die in Armut lebenden Menschen mehr gehört werden müssten. Oft habe sie erlebt, wie schwer es ist, das Thema Armut tatsächlic­h deutlich zu machen. »Manche sagen, du hast doch selber Schuld«, würden sagen, »dann geh doch einfach arbeiten«. Armut werde auch heute noch als persönlich­e Schande behandelt. »Es geht den Menschen in der Regel nicht nur um das reine Geld, das habe ich auch immer wieder in anderen Staaten erlebt, sondern oft auch darum, wie man behandelt wird«, so Biehn. Die Behandlung in den Behörden und in der Gesellscha­ft sei am Ende eine Frage der Würde.

»Instrument­e wie die Europäisch­e Säule sozialer Rechte sind begrüßensw­ert, bleiben aber reine Absichtser­klärungen.« AWO-Bundesgesc­häftsführe­r

Newspapers in German

Newspapers from Germany