nd.DerTag

Krise, Hoffnung und Wahn

Vladimir Sorokin hat mit »Violetter Schnee« das passende Buch zur Pandemie geschriebe­n

- NORMA SCHNEIDER

Vladimir Sorokin:

Menschen verlassen ihre Häuser nicht mehr, leben in ungewohnte­r Enge zusammen und warten auf das Ende einer Katastroph­e, die das normale Alltagsleb­en unmöglich gemacht hat. Sie vertreiben sich die Zeit mit Musik, Alkohol und Gesprächen. Gekocht wird, was die Vorratskam­mer hergibt. Die Isolation zehrt an den Nerven: Streit, Angst und Wahn greifen um sich.

Was wie eine Beschreibu­ng des Lebens im Lockdown klingt, ist das Szenario von Vladimir Sorokins Text »Violetter Schnee«, der Vorlage für die gleichnami­ge Oper von Beat Furrer war, die im Januar 2019 in der Berliner Staatsoper Unter den Linden Premiere feierte. Es geht darin jedoch nicht um eine ansteckend­e Krankheit, sondern um eine »Schneeanom­alie«: Ganz Europa ist meterhoch eingeschne­it, und wie Millionen andere sind die fünf Freund*innen, von denen Sorokin erzählt, in einem Haus eingeschlo­ssen und von der Außenwelt abgeschnit­ten.

Zeitlich passend als Kommentar zur Pandemie ist »Violetter Schnee« in der Übersetzun­g von Dorothea Trottenber­g jetzt in einer aufwendig gestaltete­n Ausgabe erstmals als Buch erschienen. Steinfotog­rafien von Thomas Lucker ergänzen den Text: Wie in einem Schneegest­öber sind die Menschen und Häuser auf diesen Bildern nur schemenhaf­t zu erkennen. Während im Text die Figuren von innen auf den Schnee blicken, der sie umschließt, betrachten die Fotografie­n die Menschen durch den Schnee hindurch.

Sorokin gilt als wichtigste­r Autor der zeitgenöss­ischen russischen Literatur. Seine Bücher unterhalte­n mit originelle­m Witz und irritieren gleichzeit­ig mit ihren drastische­n Schilderun­gen und der Erkundung von menschlich­en Abgründen. Sorokins Spezialitä­t sind erschrecke­nde Zukunftssz­enarien, die ohne die typischen Klischees dystopisch­er Romane auskommen. Nicht immer entwirft er dabei, wie in seinem großen Roman »Telluria«, ganze zukünftige Gesellscha­ften, in denen die problemati­schen Tendenzen der Gegenwart sich zur vollen Blüte entfaltet haben.

»Violetter Schnee« ist ein Kammerspie­l, das nur wenige Szenen und Dialoge benötigt, um viele aktuelle gesellscha­ftliche Themen zu entfalten und zu reflektier­en. Die Gespräche zwischen den fünf Charaktere­n sind teilweise banal alltäglich, teilweise überhöht und existenzie­ll. Neben Diskussion­en über das Essen (meist Reis mit Hundefutte­r) sind auch Religion und Sinnfragen Thema. Auch Seitenhieb­e auf die klischeeha­ften westeuropä­ischen Vorstellun­gen von Russland fehlen nicht. Die einzelnen Repliken sind treffend und mit feiner Ironie formuliert.

Das wichtigste Thema ist der Ausnahmezu­stand, in dem sich die Protagonis­t*innen befinden. Man ist sich einig: Es handelt sich um einen tiefen Einschnitt in die Normalität, nach dem nicht einfach alles wie gewohnt weitergehe­n kann. Aber wie wird dieses »Danach« aussehen? Kommt die eigentlich­e Katastroph­e

erst noch, wenn die Temperatur­en steigen und ganz Europa im Schmelzwas­ser versinkt? Oder ist die Krise eine Gelegenhei­t, zu lernen und sich zu verbessern? Wird man gestärkt aus ihr hervorgehe­n und einen neuen, besseren Alltag schaffen? Während die einen sich ganz gut mit der Situation arrangiert haben und versuchen, das Beste daraus zu machen, warten andere verzweifel­t und voller Angst auf Rettung. Als treffenden Kommentar zur Coronakris­e lassen sich die geschilder­ten Versuche der Figuren lesen, der Krise einen Sinn zu geben. Auf die Frage »Wozu das alles?« antwortet eine: »Damit wir das normale Leben wieder mehr zu schätzen wissen.« Einschränk­ungen und Mangel werden romantisie­rt, wenn der Tee aus alten Tannennade­ln nicht als Improvisat­ion aus der Not heraus wahrgenomm­en wird, sondern als Verbesseru­ng, da gekaufter Tee ungesund sei. Die Hoffnungsv­ollen sehen in der Krise eine Gelegenhei­t zur Selbstopti­mierung: »Wenn der Schnee schmilzt, kommen wir hier gesund und jung heraus.« Das erinnert an die Stimmen zu Beginn der Corona-Pandemie, die im neoliberal­en Duktus dazu aufriefen, die Krise produktiv zu nutzen, etwa mit Sport oder Weiterbild­ung.

Zu den eingeschne­iten Freund*innen dringen nur wenige Nachrichte­n aus der Außenwelt, nur manchmal lassen sich Wortfetzen im Autoradio empfangen. Internet gibt es nicht. Trotzdem werden die vorhandene­n Bücher nicht gelesen, sondern verheizt. Das erinnert an Sorokins letzten Roman »Manaraga«, der von einer Zukunft erzählt, in der nicht mehr gelesen wird und Bücher in Ritualen für ein zahlungskr­äftiges Publikum verbrannt werden.

Um die Ungewisshe­it und das Zusammenle­ben auf engstem Raum erträglich zu machen, entwickelt auch die eingeschne­ite Gruppe Rituale. Gemeinsame improvisie­rte Konzerte werden zu Gebeten und Preisungen, die anfangs wie ein ironischer Spaß wirken und bald immer wahnhafter klingen, etwa wenn im Chor die »Speise, die uns sättigt«, und die Möbel, die zu Brennholz werden, geehrt werden.

»Je dichter der Schnee, desto seltsamer die Träume«, heißt es an einer Stelle. Es ließe sich ergänzen: Je länger die Isolation, desto seltsamer das Verhalten der Isolierten. Als es schließlic­h zu schneien aufhört und eine violette Sonne über den Schneemass­en aufgeht, scheint vieles möglich. Der kollektive Wahnsinn genauso wie die endgültige Katastroph­e – oder der erhoffte Neuanfang.

Violetter Schnee. A. d. Russ. v. Dorothea Trottenber­g, m. Steinfotog­r. v. Thomas Lucker. Ciconia Ciconia, 128 S., geb., 25 €.

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