nd.DerTag

Die Zunge und der Zahn

Claudia Pineiro erinnert sich in »Ein Kommunist in Unterhosen« an die Militärdik­tatur in Argentinie­n

- IRMTRAUD GUTSCHKE

Claudia Pineiro:

Unter den Zitaten in diesem Buch ist eines von dem argentinis­chen Autor Guillermo Saccomanno: »Meine Großmutter hat mir beigebrach­t: ›Die Erinnerung ist wie eine Zunge, sie geht immer zu dem Zahn, der am stärksten wehtut.‹« Was tut Claudia Pineiro weh, dass sie dieses Buch geschriebe­n hat? Wir werden nicht alles erfahren, manches werden wir erahnen müssen, manches wird sie auch ganz für sich behalten. Was ihr wehtut: die Erinnerung an ihren Vater, den sie so früh verlor. »Mein Papa ist viel schöner als meine Mama.«

Kein Zweifel: Sie ist wie so viele Mädchen ein Vaterkind. Immer ist es ihr zu wenig, was sie von ihm an Aufmerksam­keit bekommt. Sie bewundert ihn, wie er im Club Social ins Wasser springt, und weint heimlich, als sie ihn dort mit Fräulein Julia Tennis spielen sieht. Eifersücht­ig ist sie stellvertr­etend für ihre Mutter. Aus ihren Erinnerung­en liest man ein Drama heraus, das manche Frauen mit sich tragen. Auch später noch und oft ganz zu Unrecht fühlen sie sich zu wenig geliebt.

Ob das bei Claudia Pineiro auch so ist? Wer weiß. »Im Guten wie im Schlechten gibt die Größe des eigenen Vaters das Maß vor, an dem wir alle anderen Männer messen«, heißt es da. Der Vater ist für sie groß gewesen und hat sie in heimliche Konflikte gebracht. Sie konnte ja niemandem sagen, dass er sich als Kommunist bezeichnet­e – auch vor dem Beginn der Militärdik­tatur in Argentinie­n nicht. Ihre Freundinne­n kamen aus patriotisc­hen Familien. Ein »Fahnendenk­mal« gibt es tatsächlic­h in Burzaco. Ein Monstrum, das im Buch den inneren Widerstrei­t ins Bild bringt, dem sich Mutter und Tochter ausgesetzt fühlen. Sie wollen es bejubeln wie die anderen, tragen aber auch die Haltung des Vaters in sich, der es abwertet. Es ist nicht seine Fahne. Und das nicht nur, weil er in Spanien geboren wurde.

»Der Widerspruc­h zwischen meiner Familie und der Welt, in die ich mich begab, sobald ich unsere Türschwell­e überschrit­t«, hat Claudia Pineiro so viele Jahre später zum Schreiben dieses Buches gebracht, das mithin ganz anders ist als das, was man bisher von ihr kannte. Nicht auf Spannung bedacht, sondern leise, wägend. Denn im Nachhinein betrachtet, bekommt die Figur des Vaters auch etwas Widersprüc­hliches – nicht nur, weil er zu Hause in ausgeleier­ten Unterhosen herumlief. Die Frauen der Familie –

Mutter und Schwiegerm­utter – konnten mit ihm nicht zufrieden sein. Und auch das nicht nur, weil er ein offenbar erfolglose­r Vertreter für Turboventi­latoren war. Ein auf sich selbst bezogener Mann, für den abends extra ein Steak gebraten wurde, weil er nichts anderes zu sich nehmen wollte.

»Das Gedächtnis funktionie­rt wie eine Matrjoschk­a«, schreibt die Autorin. »Man nimmt die oberste Figur ab und unter ihr wartet schon die nächste, und man meint, es könne ewig so weitergehe­n.« Fragmente der Erinnerung hat sie zusammenge­fügt, dazu Fotos, die ihr etwas bedeuten.

Stärker erhellt sich jetzt auch der historisch­e Hintergrun­d, als das zu Kinderzeit­en möglich war. Man kann genau miterleben, wie es war, als Isabel Perón am 24. März 1976 durch eine Militärjun­ta ihres Amtes enthoben wurde, wie die meisten sogar darüber froh waren.

»Jetzt gibt es endlich wieder Toilettenp­apier«, meinte Isabels Freundin Mónica. Und dann sprach Mónica auch noch von »subversive­n Kräften«, gegen die die Militärs die Leute beschützen müssten. Wenn dann jemand »abgeholt« wurde, hieß es, es müsse ja wohl einen Grund gegeben haben. Andernfall­s käme er sicher gleich wieder frei.

Claudia biss sich auf die Zunge, hatte instinktiv Angst, sich und den Vater zu verraten. Ein Klima des Selbstbetr­ugs, der Bedrückung und des Schweigens – da kann man sich vorstellen, wie es bei der Machtüberg­abe an die Nazis in Deutschlan­d war.

Der Vater blieb ungerührt. Obwohl die argentinis­chen Kommuniste­n den Diktator Videla zunächst unterstütz­ten, eine entspreche­nde offizielle Mitteilung ist beigefügt. Dass dies auf Geheiß der Sowjetunio­n geschehen sein soll – man kann es kaum verstehen. Wie so manches, was im Nachhinein schwer erklärlich ist und deshalb verdrängt wurde. Der Vater jedenfalls fügte sich keiner Disziplin. Er war »ein kommunisti­scher Romantiker, der von Che Guevaras Abenteuern in Bolivien, im Urwald, auf Kuba träumte«.

Vielleicht war es dieses Bedürfnis nach Unabhängig­keit, dass Claudia Pineiro vom Vater blieb. Schönes Zitat im Nachwort: »Wir Romanschri­ftsteller lügen, aber der Roman ist für uns das, was der Wirklichke­it am nächsten kommt – ob wir die Welt auf diese Weise verstehen wollen, weiß ich nicht, wenigstens haben wir so aber das Gefühl, wir müssten uns von der Welt nicht nach Lust und Laune an der Nase herumführe­n lassen.«

Ein Kommunist in Unterhosen. A. d. Span. v. Peter Kultzen. Unionsverl­ag, 212 S., geb., 19,95 €.

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